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Archiv-Artikel

Du bist ein Star

IDEALE YouTube wird zehn. Wo einst Amateure skurrile Katzenclips veröffentlichten, konkurrieren heute Profis um viel Geld. Der Machtkampf um die Zukunft des neuen Fernsehens hat gerade erst begonnen

Geld verdienen mit YouTube

■ Die Möglichkeiten: Wer einen Kanal gründet und die Monetarisierungsfunktion aktiviert, kann wählen, in welcher Form Werbung zu sehen sein wird. Anzeigen, die unten eingeblendet, Clips, die vor den Videos abgespielt werden, oder Werbebanner daneben.

■ Das Prinzip: Der YouTube-Eigner Google vermarktet die Werbung und zahlt Urhebern der Videos 45 Prozent der Einnahmen. Wie viel die Werbekunden zahlen, hängt zum Beispiel davon ab, ob ihre Clips zu Ende geschaut oder angeklickt werden. Grundsätzlich gilt: je mehr Klicks, desto besser.

■ Der Gewinn: Die Bezahlung pro 1.000 Klicks schwankt erheblich und kann zwischen 60 Cent und 6 Euro liegen. Laut Experten kann man ab einer Million Views pro Monat von YouTube leben.

AUS KÖLN UND BERLIN SEBASTIAN KEMPKENS

Dass ihr Sohn ein Star ist, kam bei Florian Mundts Eltern relativ spät an. Vor etwa einem Jahr saß die Familie in einem Restaurant in Berlin-Mitte, Mundts Vater hatte Geburtstag. Es gab Schnitzel und Bier. Immer wieder schauten Kinder, die mit ihren Eltern im Restaurant waren, schüchtern herüber. Irgendwann trauten sie sich an seinen Tisch und baten Mundt um ein Foto, ein Autogramm. Da begann es seinen Eltern zu dämmern, erzählt Mundt, dass ihr Sohn vielleicht doch etwas mehr erreicht hatte, als nur ein paar wacklige Videos auf eine Internetseite namens YouTube hochzuladen.

Florian Mundt, 27 Jahre alt, erreicht dort inzwischen mehr Abonnenten als die Bild-Zeitung. Den YouTube-Kanal, in dem er seine Clips hochlädt, sehen mehr als 2,2 Millionen Menschen.

LeFloid, wie sich Mundt auf YouTube nennt, spricht seine Videos zu Hause ein, in Kapuzenpullover und mit Baseballkappe, im Hintergrund steht eine Star-Wars-Puppe, so groß wie er selbst. Als Nachrichten-Comedian rattert Mundt zweimal pro Woche seine Meinung zu aktuellen Themen herunter. Er nennt es „LeNews“. Mal geht es um griechische Wahlen, mal um die Bedrohung der Erde durch Asteroiden. Immer ist es unauffällig informativ. Steile Thesen, rasante Schnitte. Seine Stimme zwitschert, knödelt, brummt. Seine Hände tanzen.

Mundt ist gerade dabei, sein Psychologie-Studium abzuschließen, seine Zielgruppe hat nicht einmal Abi. Die meisten seiner Videos werden knapp eine Million Mal geklickt. In der Welt der 6- bis 18-Jährigen ist LeFloid ein Superstar. In der Welt seiner Eltern, die bei YouTube höchstens mal eine Politikerrede schauen, kennt ihn fast niemand.

Als Mundt an Weihnachten 2012 zu Hause erzählte, dass er jetzt Videos machen wolle, hieß es: Bist du sicher? Was ist mit dem Studium, mit einem richtigen Beruf?

Zwei Jahre später bekam er den Publikumspreis des ehrwürdigen Grimme-Instituts, das Qualität im Fernsehen prämiert, jetzt eben auch online. Die Techniker Krankenkasse buchte Mundt für eine groß angelegte Werbekampagne, für die er einen hohen sechsstelligen Betrag erhalten haben soll. Mundt arbeitet 60 bis 70 Stunden pro Woche, er sagt: „Im Moment ist in meinem Leben alles perfekt, ich bräuchte nur mehr Zeit.“ Er überlegt jetzt, jemanden zu engagieren, der die Postproduktion seiner Videos übernimmt. Allein durch die Werbeeinnahmen, von denen ihm YouTubes Mutterkonzern Google einen Anteil zahlt, dürfte er Schätzungen zufolge jeden Monat einen fünfstelligen Betrag verdienen.

Leute wie Mundt sind eine völlig neue Sorte Star. Es gibt für sie noch nicht einmal einen vernünftigen Begriff. YouTuber? Video-Künstler? Kein Manager oder Talentscout hat sie ausgewählt, aber sie sind dabei, Fernsehen neu zu erfinden. Google hat im vergangenen Jahr einen Gewinn von geschätzt knapp 2 Milliarden Euro mit YouTube gemacht. Viele Unternehmen verschieben Werbeetats vom Fernsehen zu YouTube. Jungs, die noch in der härtesten Phase ihrer Pubertät stecken, können hier auf eigene Faust berühmt werden. Es ist eine radikale Demokratisierung des Star-seins.

Über Jahre haben sich Leute wie Mundt eine Gemeinschaft treuer Fans aufgebaut. Er nennt seine die LeFloid-Army. Ihr seid meine Flügel, schreibt er manchmal, dank euch kann ich fliegen. Es gibt viele Jugendliche, bei denen das Gänsehaut auslöst. Manche seiner treuesten Fans kennt Mundt persönlich. Wer ihn auf Twitter, Facebook oder Instagram kontaktiert, hat gute Chancen auf eine Antwort. „Ich trage meine Accounts ja ständig in der Hosentasche mit mir herum“, sagt er. Manchmal postet er nachts noch ein Bild, wenn er von einer Party nach Hause kommt. Feierabend gibt es nicht.

Das US-amerikanische Magazin Variety hat vor einem halben Jahr 1.500 Jugendliche zu ihren Idolen befragt: Wie authentisch findest du jemanden, wie gut gefällt dir sein Auftreten? Die ersten fünf Plätze gingen an Leute von YouTube. Erst dann folgten Schauspieler, der inzwischen verstorbene Paul Walker und Jennifer Lawrence. Die Umfrage zeigte, was einen YouTube-Star ausmacht: Seine Fans haben das Gefühl, ihn wirklich zu kennen.

An diesem Wochenende wird YouTube zehn Jahre alt. Seine Geschichte verlief letztlich wie die Geschichte des Internets: Erst ist Anarchie, Nische, alles scheint möglich. Dann kommt immer mehr Geld ins Spiel, Unternehmen machen Businesspläne. Sie übernehmen die Kontrolle.

Viele sagen: Gerade entscheidet sich, ob mit dem Kommerz der Charme verloren geht. Kaum zehn Jahre alt, erlebt das Teenager-Medium schon eine klassische Früher-war-alles-besser-Diskussion.

Köln, ein verspiegeltes Bürogebäude in der Innenstadt. Im neunten Stock sitzt Christoph Krachten, die Tapete im Look eines aufgeschnittenen Baumstammes, eine Ledercouch, die alt aussehen soll, aber neu ist. Krachten ist Manager bei Mediakraft, einem sogenannten Netzwerk, das die Videomacher von YouTube unter Vertrag nimmt wie ein Musik-Label Bands. Unternehmen wie Mediakraft buhlen darum, Verträge mit Leuten wie LeFloid abzuschließen. Die Netzwerke bieten einen einfachen Deal: Gebt uns einen Teil eurer Werbeeinnahmen. Im Gegenzug helfen wir euch, euer Publikum zu vergrößern, klären rechtliche Fragen und unterstützen euch mit Technik. Welches Potenzial in diesem Geschäft steckt, war spätestens klar, als Disney vergangenes Jahr das Network Maker Studios für 500 Millionen Dollar kaufte.

Krachten versucht eine Art Dressur der YouTube-Stars

Aber auch Deutschland ist längst zu einem umkämpften Markt geworden. Fernsehsender wie RTL und die ProSiebenSat.1-Gruppe investieren Millionen in Netzwerke, die um Verträge mit den erfolgreichsten YouTube-Stars buhlen.

Mundt ist bei Mediakraft unter Vertrag, Krachten ist Mundts Chef. Noch. Denn Mundt hat bereits gekündigt. Und Krachten wird am Ende dieses Textes zurückgetreten sein. Beides hängt miteinander zusammen.

Irgendwann merkte Mundt, dass Krachten etwas völlig anderes mit seine Figur LeFloid vorhatte als er. Erst lehnte sich nur Mundt auf, dann folgten andere. Sie alle wollen ihr YouTube bewahren.

Es ist Anfang Januar, Krachten steht im Zentrum eines Sturms. Es geht um die Zukunft seines Unternehmens, um die Zukunft YouTubes, er muss aufpassen, wo er hintritt, um nicht weggetragen zu werden.

Krachten, ein Familienvater in Turnschuhen und Karohemd, duzt jeden und lacht gackernd wie Stefan Raab. Auf Podien wird er oft als „Mr YouTube“ anmoderiert, weil er schon vor Jahren angefangen hat, Videos hochzuladen. 2011 gründete er Mediakraft mit. Heute hat das Unternehmen rund 150 Mitarbeiter, Büros in Köln, München, Berlin, Hamburg, Warschau, Amsterdam und Istanbul. „Wir sind der größte Online-TV-Sender in Mitteleuropa“, sagt Krachten gern, damit auch die Vertreter der alten Medienwelt verstehen, wovon er spricht.

Krachten versucht eine Art Dressur der YouTube-Stars, eine Professionalisierung. Der Manager hat bei der letzten Finanzierungsrunde für Mediakraft 16,5 Millionen Euro eingesammelt. Die Investoren wollen ihr Geld irgendwann wiedersehen.

„Wir sind“, sagt Krachten, „eine Art Turbolader, den man ins System eingebaut hat.“ Funktioniert ein Kanal nicht, wisse er meist beim ersten Video den Grund. Wäre Krachten Politiker, auf seinen Plakaten stünde: Wachstum, Wachstum, Wachstum. „Schauen Sie sich in der Straßenbahn, im Bus, wo auch immer um“, sagt er. „Alle gucken Videos, auf Smartphones, Tablets. Ich behaupte, YouTube wird bald größer sein als Fernsehen.“

Mundt und seine Kollegen wollen ihr YouTube zurück

Dass es keine Grenzen gibt, ist bei YouTube zu einer Art Naturgesetz geworden. Sein nächstes großes Projekt, sagt Krachten zum Abschied, sei „absolut mindblowing“: Er wolle den Kölner Dom einen Tag lang mit der Grafik von Minecraft anstrahlen, einem unter YouTubern populären Computerspiel, drumherum solle ein großes Event stattfinden. Nur der Domkapitular müsse noch zusagen.

Es kommt dann alles anders.

Die YouTube-Szene hat sich in den vergangenen Jahren rasant kommerzialisiert. Als drei Paypal-Mitarbeiter die Plattform im Februar 2005 gründeten, luden ein paar Amateure lustige Videos von Katzen mit Sonnenbrillen hoch. Im Jahr 2015 ist YouTube für Teenager Fernsehen.

„Die Öffentlich-Rechtlichen machen sich in jede Hose, die man ihnen hinhält, und die Privaten senden das, was darin ist“

DIETER HILDEBRANDT, KABARETTIST

Ein TV-Kommentator, der seine Nachrichten-Floskeln aufsagt, als wären es Vokabeln, die man auswendig lernen muss? LeFloid sagt das Gleiche in einer Sprache, die man versteht, und interessiert sich dafür, was seine Zuschauer zu sagen haben. Er diskutiert in der Kommentarspalte unter den Videos mit.

YouTube offenbart erbarmungslos das Scheitern deutscher TV-Redakteure: Millionen von Kindern und Jugendlichen wollen sehen, was auf der Plattform passiert. Aber zu erklären, warum, fällt schon einem 30-Jährigen schwer, der dort mal einen Musikclip sieht, eine Bastelanleitung sucht oder einen vergessenen Arthouse-Klassiker genießt.

Man muss sich das mal vorstellen. Da kommt einer in eine Konferenz von Fernsehredakteuren und schlägt eine Sendung vor, in der nur zu sehen ist, wie jemand Computer spielt und dabei jeden Schritt kommentiert. Oder wie junge Frauen im Drogeriemarkt einkaufen und danach vor der Kamera erklären, welche Hautcreme ihnen am besten gefallen hat.

Betretenes Schweigen. Verlegenes Hüsteln.

Auf YouTube wird man so zum Star. Wie der Schwede mit dem Künstlernamen PewDiePie, knapp 35 Millionen Abonnenten. Er kommentiert Computerspiele. Wie die Amerikanerin Michelle Phan, 7,5 Millionen Abonnenten. Sie liefert Schminktipps. Inzwischen betreibt sie eine eigene Make-up-Reihe, in Los Angeles kommt man oft kaum noch durch die Stadt, ohne ihr Gesicht auf riesigen Plakaten zu sehen.

Millionen von Jugendlichen wollen so was sehen.

Dutzende Investoren wollen jetzt davon profitieren.

Gefährden sie damit die anarchische Freiheit, die den Erfolg erst möglich gemacht hat? Nur weil es kein Fernsehen war, konnte YouTube ja zum neuen Fernsehen werden. Frei von Quotendruck.

2006, ein Jahr nach der Gründung, kaufte Google das Unternehmen für 1,3 Milliarden Euro. Damals schauten die Nutzer Tag für Tag rund 100 Millionen Videos, heute sind es etwa 4 Milliarden. Der Konzern investierte viel Geld, um die Qualität der Videos zu steigern. Die Professionalisierung stieß Google schon vor Jahren an.

Berlin-Neukölln, ein Loft in einer Fabriketage. Es ist Freitagnachmittag, Florian Mundt sitzt in einem Wohnzimmer, groß wie zwei Garagen, und schreibt Autogrammkarten. Ein Brunch-Buffet ist aufgebaut, um Mundt herum wuseln junge Menschen mit großen Brillen und engen Hosen.

Sie würden das nie so formulieren, aber hier begann vor einem halben Jahr ein kleiner Aufstand, der Versuch, jenes YouTube zu retten, das sie lieben. Studentenparty statt Abendgarderobe.

Mundt und 14 andere Video-Künstler hatten genug davon, dass es oft nur auf Klicks, auf Reichweite anzukommen schien. Also gründeten sie einen Club. Sie nannten ihn 301+, eine Zahl als Symbol für das alte YouTube, bei dem Videos mit mehr als 300 Aufrufen einfach mit 301+ beziffert wurden. Auf ihrer Homepage steht: „Wir sind ein Freundeskreis. Keine Crosspromomaschine. Wir sind ein Verein. Kein gewinnorientiertes Unternehmen.“

Sie sagen hier in Neukölln: Geld zu verdienen ist im Moment nicht schwer. Uns allen scheint die Sonne ins Gesicht. Geht es uns in Zukunft also einzig darum, die Kohle möglichst schnell aufzusammeln? Oder wollen wir mal über Inhalte reden? Darüber, wie wir es schaffen, dass nicht noch der Millionste Videospiel-Kanal aufmacht, sondern auch anspruchsvollere Themen auf YouTube stattfinden können.

Wenn YouTube eine Bäckerei ist, sagt eine, wollen wir diskutieren, was gutes Brot ausmacht und uns nicht nur an den Krumen satt fressen, bis wir kotzen.

Sie haben gelernt: Jeder kann im Schlafzimmer Videos aufnehmen, die Millionen Menschen interessieren und Tausende Euro im Monat einspielen. Warum also sollten sie sich nach Investoren richten?

Mundt, der hier der erfolgreichste ist, machte den Anfang. Im Oktober verkündete er in einem Interview mit dem Vice-Magazin seinen Abschied von Mediakraft, seinem YouTube-Label. Mediakraft gehe es nicht darum, kreativen Austausch unter Künstlern zu fördern. Sondern nur darum, „die Großen noch größer zu pumpen, was mediale Aufmerksamkeit betrifft, um den eigenen Netzwerk-Wert zu erhöhen“. Es gab kaum eine große Zeitung, die LeFloids Entscheidung nicht meldete, Mediakraft bekam Dutzende Interviewanfragen.

Er stehe immer noch in gutem Kontakt mit Mundt, sagt Manager Krachten Anfang Januar in Köln. „Der Flo“ habe eben eine Veränderung gewollt, alles ganz normal.

Wenige Tage später muss Krachten zurücktreten.

„Wir gucken alle kein Fernsehen mehr“

PHILIPP LAUDE VON Y-TITTY, YOUTUBE-COMEDIAN

Mundt blieb nicht der Einzige, der Mediakraft den Kampf ansagte. Ein 24 Jahre alter Erzieher mit Rasta-Zöpfen hatte ihn weiter in Bedrängnis gebracht.

In der Nacht vor dem vierten Advent postet Simon Wiefels, genannt Unge, ein Video, in dem er Mediakraft vorwirft, junge Künstler wie ihn auszubeuten. Das Netzwerk verdiene eine Menge Geld, ohne eine Gegenleistung zu erbringen. Stattdessen sei er unter Druck gesetzt worden. Ein Mitarbeiter habe ihm gedroht, ihn in die Privatinsolvenz zu treiben, sollte er sich gegen das Unternehmen stellen.

„Ich bin am Zittern, meine Hände sind so zittrig“, sagt Wiefels zu Beginn seines Kündigungsvideos. Und später: „Ich lasse mich nicht wie einen Scheißhaufen behandeln.“ In Köln klingelte das Telefon in den Tagen danach ununterbrochen, Mediakraft-Mitarbeiter bekamen Morddrohungen. In den Sozialen Netzwerken brach eine Welle aus Hasskommentaren über dem Konzern zusammen, der von Wiefels gewählte Hashtag „Freiheit“ führte lange die Twitter-Charts an.

Kurz nach Wiefels kündigte auch das Komiker-Trio ApeCrime an, seinen Vertrag mit Mediakraft nicht zu verlängern.

Krachtens Rauswurf begründete das Unternehmen mit solcher Kritik. Investoren könnten „die Stabilität von Mediakraft oder dessen Zukunft in Frage stellen“.

Der Aufstand der YouTube-Stars hat sein erstes Opfer gefordert. Ob sich inhaltlich etwas ändert, ist eine ganz andere Frage.

In den USA gab es in den vergangenen Jahren ähnliche Konflikte zwischen Netzwerken und Künstlern. Dennoch investieren Filmstudios wie Warner Brothers heute Millionen in YouTube-Produktionen.

Fabian Siegismund ist 39 Jahre alt und arbeitet in Berlin-Mitte am gleichen Projekt wie Krachten, nur für ein anderes Netzwerk, Studio71, eine Tochterfirma der ProSiebenSat.1-Gruppe. Siegismunds Arbeitgeber betreibt ein eigenes Videoportal. Im Sommer 2013 entschied er, sich nicht länger mit YouTube anlegen zu wollen, sondern einfach einzusteigen. Studio71 ist etwas kleiner als Mediakraft, hat dafür aber Gronkh unter Vertrag, den größten deutschen YouTube-Star. Auch ein Computerspiel-Kommentator.

Die Frage bleibt die gleiche: Ist das ein Gesicht?

Siegismund, um den Hals einen großen Röhrenschal, steht in einem Raum, der aussieht wie ein Fernsehstudio. Sie nennen das hier die „Creative Lounge“. Vor ihm sitzen Journalisten, Manager mit Drei-Tage-Bärten, YouTuber, die nervös grinsen. Siegismund stellt das Nachwuchsprogramm seines Netzwerks vor, „Bootcamp“, sagt er dazu. Das Studio71 hat 25 noch wenig erfolgreiche YouTuber ausgewählt, um sie langsam aufzubauen. Siegismund soll ihnen jetzt in Wochenendseminaren beibringen, wie YouTube funktioniert.

„Wir machen Videos für Goldfische“, ruft er. „Das ist die Competition: Unsere Nutzer haben eine Aufmerksamkeitsspanne von fünf Sekunden, bei Goldfischen ist sie drei Sekunden lang, daran orientieren wir uns.“ Das heißt: „kein episches Intro“, sondern sofort rein ins Video. Kein Abspann, sondern eine moderierte „Endcard“, der Hinweis aufs nächste Video. Und bei allem das „Tent-Poling“ nicht vergessen, abgeleitet vom englischen Begriff für Zeltstange: auf den Veröffentlichungszeitpunkt achten, zum Beispiel ein paar Wochen vor Halloween ein Video mit Kostüm-Tipps posten.

Einige Wochen später führt Siegismund durch das Großraum-Büro von Studio71. Es sieht aus wie eine Mischung aus Callcenter und Kinderzimmer, auf den Schreibtischen liegt Spielzeug neben glänzenden Flachbildschirmen. Siegismund ist kein Manager-Typ. Genau wie Krachten ist er eher zufällig in die Branche gerutscht.

„YouTube“, sagt Siegismund, „bezieht seinen Reiz natürlich auch aus der Anarchie.“ Bei Webvideos geht es nicht darum, wie gut sie aussehen, sondern wie gut sie sind, das ist ein für YouTube-Verhältnisse alter Spruch. Siegismund bringt diese Anarchie in ein Dilemma: Er kann es sich schlicht nicht leisten, auf zu viele Chaoten zu setzen. „Jeder Artist hat einen Partnermanager“, sagt Siegismund. Der muss bezahlt werden. Ein Großteil der „Artists“ also muss funktionieren.

In ein paar Jahren, sagen sie hier, wollen sie zu den Top-5-Netzwerken weltweit gehören. Dementsprechend global denken sie. ProSiebenSat1 hat Anteile eines US-Networks gekauft.

„Mein YouTube-Tipp: Egal wie gut das Video ist, lest nicht die Kommentare darunter. Lasst es einfach, ihr werdet sonst nur zu Menschenhassern“

MATT GROENING, ERFINDER DER „SIMPSONS“

Sie wollen das Gleiche wie Mediakraft, mit YouTubern Geld verdienen. Aber sie haben Geld vom Fernsehen. Mehr Freiheit, keine Investoren im Nacken.

Die deutsche Szene durchkämmen sie bei Studio71 schon so gründlich, wie es geht. Fünf Mitarbeiter sind ausschließlich damit beschäftigt, YouTube nach Talenten zu durchsuchen, die das Unternehmen unter Vertrag nehmen könnte. „Das K.-o.-Kriterium“, sagt einer der Scouts, „ist natürlich: Können wir denjenigen vermarkten? Ist das ein Gesicht?“

Michelle Burke ist ein Gesicht. Burke, 24 Jahre alt, eine zierliche Berlinerin mit großen Augen, macht Videos mit Titeln wie „Was hab ich denn da Tolles gekauft“. Sie präsentiert mal Blusen oder Ketten, mal zeigt sie ein Rezept für „Nutella-Kekse“. Vor einem knappen Jahr hatte sie eine Nachricht von Studio71 in ihrem YouTube-Postfach: Wir sehen Potenzial in dir, würden gern mit dir zusammenarbeiten, bitte melde dich, wenn du Interesse hast. Burke konnte ihr Glück kaum fassen.

Sie bewohnt eine erstaunlich große Wohnung im Berliner Norden. Ihre Zimmer wirken wie die einer Boutique: nach Farben sortierte Klamotten in weißen Schränken, arrangierter Schmuck, ein süßlicher Geruch. Wenn sie ihre Videos dreht, setzt sie sich vor ihre kleine Kamera, hält Kleidungsstücke hoch und erzählt, wo sie sie gekauft hat und was ihr an ihnen gefällt. Solche sogenannten Hauls, abgeleitet vom englischen Wort für Beute, sind beliebt unter Mode-Video-Bloggerinnen – und bei Firmen, die so gezielt Werbung schalten können. Nach ihrem Dreh erzählt Burke, dass inzwischen immer mehr Angebote von Firmen kommen, sie aber noch keines angenommen habe.

Inhalte nach vorn, nicht mehr die Stars

Bisher kann Burke ihre Miete noch nicht mit ihren YouTube-Aktivitäten zahlen. Studio71 will langsam ihr Publikum vergrößern. Ihr persönlicher „Partnermanager“ weicht beim Interview nicht von ihrer Seite.

Burkes Vorbild ist Michelle Phan mit ihrer eigenen Make-up-Linie. Viele Mädchen würden in ihr eine große Schwester sehen, sagt sie. Sie bekomme täglich Nachrichten von wildfremden Mädchen, die sie um Rat bitten: Ich bin verliebt, was soll ich tun, meine Eltern haben sich getrennt, wie soll ich damit umgehen, solche Fragen. Sie antwortet immer, sagt Burke. Für Michelle Phan mit ihren Millionen Fans wäre das unmöglich.

Ein paar Kilometer weiter südlich, in Berlin-Neukölln, arbeiten Florian Mundt und seine Freunde von 301+ daran, einen Kompromiss zu finden zwischen Burke und Phan. Es ist mittlerweile Abend geworden, im Loft laufen so viele Menschen herum, als beginne gerade eine Party. Mundt sitzt in einer Ecke und arbeitet Interviews ab. Nach der taz.am wochenende hat er noch ein Gespräch mit einer Reporterin vom Spiegel und eins mit einem Medienblogger.

In ein paar Tagen wollen sie das erste große Projekt von 301+ feiern: eine Ausstellung der YouTube-Band Fewjars in einer Kreuzberger Konzerthalle. Das aufwendigste Video der Band besteht einzig aus selbst gemalten Aquarellen. Diese Bilder will 301+ präsentieren. Die Vernissage sei ein Symbol für ihr Ziel, sagt Mundt. Es reiche langsam, sich über den Erfolg von YouTube-Stars zu wundern. „Das ist so, als würde man bei Models immer noch sagen: Krass, die laufen nur und verdienen damit so eine Kohle.“ So langsam müsse man mal anfangen, über die Schönheitsideale zu sprechen. „Wir wollen die Inhalte in den Vordergrund stellen, nicht die Stars.“

Am Sonntag stehen Hunderte Jugendliche vor der Konzerthalle. Der Einlass dauert, einige Mädchen brechen zusammen. Drinnen ist die Stimmung andächtig. Die Fewjars empfangen jeden Fan wie einen Geburtstagsgast. Mädchen mit Zahnspangen drücken ihnen stolz eigene Aquarelle in die Hand. „Hier mein Fan-Art, ich hab’s dir ja schon auf Instagram geschickt, jetzt hast du das Original.“ 14 Jahre alte Jungs stehen vor abstrakten Aquarellen und versuchen mit ihren Kumpels kluge Gespräche. In der Mitte der großen Halle schaut sich eine Mutter um: „So viele Kinder, und wir sind hier quasi in einem Museum.“

Sebastian Kempkens, 26, ist Autor der taz.am wochenende. Er empfiehlt das Video „RTL macht YouTube“ der SpaceFrogs