24 stunden spreebogen, folge 18
: Von 17 bis 18 Uhr

Im „Himmel über Berlin“ gibt es doch die Sequenz, in der tausende Jahre Naturgeschichte im Zeitraffer ablaufen. Man erhascht einen Eindruck von der Besonderheit des welthistorischen Augenblicks, in dem man sich hier und heute wiederfindet – und von seiner Kürze.

Wohin man auch blickt an so einem herbstlichen Nachmittag am Spreebogen – überall bekommt man Hinweise auf die viel größeren Prozesse, in die selbst so eine machtvolle Zivilisationsinszenierung wie das Berliner Regierungsviertel eingebettet ist. Am dramatischsten ist sowieso das Himmelsspektakel. Man hatte schon gedacht, dass es zu dämmern beginnt, da kämpft sich die Sonne noch einmal hinter der Siegessäule aus den Wolken hervor und schleudert schräge helle Strahlen in die Welt. Tiefere Wolkenschichten sind zum Kontrast dazu aber tatsächlich schon rötlich eingefärbt.

Ab 17.15 Uhr dachte ich eine halbe Stunde lang außerdem: Dies Areal gehört in Wirklichkeit den Krähen. Ich saß auf einer Bank, die Spree plätscherte, die Strandbars waren abgebaut; drumherum also dieser melancholische Charme des Saisonendes. Und die Menschenwelt schickte in Abständen Jogger vorbei und ein paar Fahrradfahrer, dazu Familien auf Hauptstadtausflug. Die Krähen aber hielten das Gebiet vor der Moltkebrücke geradezu besetzt. Alle Bäume voll von ihnen, bereits nach wenigen Minuten hört man viele unterschiedliche Rufe sowie Klack- und Krächzlaute heraus. Und auf der Promenade tollten, hüpften und flatterten sie umher, als würde es die Menschenwelt gar nicht mehr geben.

War es nicht Bobby Kennedy, der in einer Rede seinen Politikansatz vom Gefühl der Solidarität ableitete, mit all den anderen Menschen genau diesen einen kosmischen Augenblick zu teilen? Wahrscheinlich würde ein Bundestagsabgeordneter, der da anknüpfen wollte, sich in unserer pathosfernen Berliner Republik ziemlich lächerlich machen. Aber wenn er sich, etwa in einer Sitzungspause, mal auf eine Bank an die Spree setzt, könnte er durchaus einmal in größeren Zusammenhängen träumen wollen, angesichts der selbst in ihrer Alltäglichkeit beeindruckenden Naturphänomene. Bei der konkreten Umsetzung von Gesetzesentwürfen helfen Sonnenstrahlen und Krähen aber wohl kaum weiter. DIRK KNIPPHALS

Wöchentlich geht der Autor eine Stunde lang durch das Regierungsviertel in der deutschen Hauptstadt – jede Woche eine Stunde später als in der Woche davor. Von 18 bis 19 Uhr: am 27. Oktober