: Das unaufhaltsame Zerbröseln der Welt
HEINRICH VON KLEIST Woher nur nehmen die Figuren von Kleist ihren inneren Kompass, ihr sicheres Gefühl? Heute beginnt am Gorki-Theater ein Festival, an dem alle querköpfigen Helden des Dichters beteiligt sind
■ Kleist war fasziniert vom Krieg und ein Waffenfetischist. Ante Ehmann & Harun Farocki haben ihm deshalb im Keller des Gorkis die Filminstallation gebaut „Die Tropen des Krieges“.
■ Jeder Sprecher verändert einen Text. Die ungarische Künstlerin Ildikó Enyedi lädt die Festivalbesucher ein, selbst gewählte Kleist-Texte vor der Kamera zu lesen.
■ Mit Kopfhörer und Audioplayer kann man am Kleinen Wannsee dem „Akustischen Kleistdenkmal“ von Paul Plamper folgen.
■ Der verbotene Kritiker: Die preußischen Behörden untersagten Kleist, sich in seinen Abendblättern zum Theater zu äußern. Darüber hält Alexander Weigel einen Vortrag, 6. November, 15 Uhr.
VON ESTHER SLEVOGT
Die zerklüftete Styroporlandschaft, die Natascha von Steiger für Armin Petras’ Dresdener Inszenierung „Das Erdbeben in Chili“ erfunden hat, ist ein auch grundsätzlich sehr stimmiges Bild für die Welt, in der sich die Figuren der Dramen Heinrich von Kleists wiederfinden. Eine Welt, die bei jedem Schritt ein kaum erträgliches, markerschütterndes Knirschen verursacht und den Akteuren unter ihren Füßen unaufhaltsam zerbröselt. Eine Welt, wie sie schließlich auch Kleist selbst keinen Halt mehr bot, der sich vor zweihundert Jahren an einem gottverlassenen, verkommenen Ufer zwischen Potsdam und Berlin erschoss, gerade vierunddreißig Jahre alt: an einem Gewässer, das damals den Namen „Stolper Loch“ trug und erst in den boomenden Gründerjahren des 19. Jahrhunderts, als ein investitionsfreudiger Berliner Bankier die Gegend erschloss und zum exklusiven Wohngebiet machte, den deutlich klangvolleren Namen „Kleiner Wannsee“ erhielt.
Armin Petras’ in der vergangenen Spielzeit für das Dresdener Staatsschauspiel entstandene Bühnenadaption der berühmten Kleist-Novelle über eine zerfallende Welt, deren Trümmerteile auch die Menschen zu erschlagen drohen, wird am 8. November im Maxim Gorki Theater im Rahmen eines Kleist-Festivals zu sehen sein, das am Freitag mit Jan Bosses Neuinszenierung von „Das Käthchen von Heilbronn“ eröffnet wird. Drei Wochen lang, bis zu Kleists Todestag am 21. November, gibt es dann nicht weniger als Kleists so ziemlich gesammelte Werke zu sehen, beleuchtet von den scharfen Scheinwerfern der Gegenwart.
Kleist wird nicht nur in Inszenierungen szenisch untersucht, sondern auch diskursiv befragt, musikalisch unterwandert (so von Schorsch Kamerun) und sogar ganz real erwandert, via Ausflug nach Kohlhasenbrück nämlich, wo man so stolz ist, nach dem querköpfigen Kleist-Protagonisten Michael Kohlhaas benannt worden zu sein.
Alle Figuren in Kleists Dramen und Novellen scheint dabei etwas gegeben zu sein, das ihrem Erfinder selbst längst abhanden gekommen war: eine unerschütterliche innere Gewissheit nämlich, die sie trotz allem immer noch sicher durch die zerfallende Welt und ihre Zumutungen und Abgründe navigiert, wie das „Käthchen von Heilbronn“, das ein machtvolles Gefühl doch am Ende Errettung und Erlösung finden lässt. Die sich durch nichts von ihrem Weg abbringen lässt und am Ende erhoben wird.
Es ist allerdings ein Gefühl, das so gar nichts mit Emotion, bürgerlicher Innerlichkeit und Befindlichkeit zu tun hat, mit der es in zeitgenössischen Inszenierungen beispielsweise des „Amphitryon“ so gerne verwechselt wird. Denn das Gefühl, das Kleists Figuren am Ende aller Orientierung doch immer noch so zuverlässig Orientierung bietet, ist so machtvoll, dass selbst die Götter im Olymp neidisch werden und (wie in „Amphitryon“ eben) herab zu den Menschen steigen, um daran teilhaben zu können. Denn die Götter wissen, dass sie ihre Macht längst verloren haben.
Wer hier nur mickrige bürgerliche Emotionen sieht, beschränkte irdische Ehekriege, der verfehlt den Glutkern der Kleist’schen Dramatik, schrumpft ihn zur küchenpsychologischen Petitesse. Denn es ist nichts weniger als die Utopie selbst, die Kleist zum Fixstern seiner Figuren macht, und mit der er der Verletzlichkeit der Welt und ihrer Ordnung die Unverletzbarkeit der Seele entgegensetzt. Kleist feiert in seinen Figuren immer auch das autonome Subjekt, das sich gegen die Verhältnisse stemmt, die seine Integrität und seine Freiheit bedrohen.
Die Unbedingtheit, mit der sie das tun, kann einen gelegentlich auch das Fürchten lehren: der todesbereite Prinz von Homburg zum Beispiel, der deshalb auch ein bevorzugtes Missbrauchsopfer totalitärer Kleist-Lesarten ist und ein Lieblingsstück der Nazis war – die 1936 auch sein Originalgrab am Kleinen Wannsee umgestalteten, das erst jetzt, zum Jubiläum, wiederum neugestaltet worden ist. Auch das Käthchen von Heilbronn wurde zum unterwürfigen Gehorsamsvorbild für die deutsche Frau umfunktioniert.
Im Maxim Gorki Theater fragt man nun in einer Rahmenveranstaltung, ob die dem Grafen so unbeirrbar folgende Katharina am Ende eine Stalkerin war. Open Source Kleist. Manchmal kommt es in seinen Texten auch zu Kollisionen der so drängend um ihre Autonomie ringenden Figuren mit der Welt, die so gewaltig sind, dass das Individuum zerbricht: in der „Penthesilea“ zum Beispiel oder in der Novelle „Michael Kohlhaas“. Aber vielleicht müssen diese Figuren auch nur deshalb untergehen, weil sie dem Gefühl nicht vertrauen. Sich gegen das Utopische stemmen, statt darin ihre Errettung zu erkennen. Auf ins Gorki also. Kleistwärts.