: Geborgte Gegenwart
Endlich das unentfremdete Leben oder körperlicher Verfall und Altersarmut? Das Alter bleibt unwägbar und verlässlich ist nur das Schweigen der Männer darüber
VON MICHAEL RUTSCHKY
Um den Verfall des Männerkörpers abzuwenden – und so erst richtig sichtbar zu machen –, existiert noch keine systematisch entwickelte Industrie. Männer neigen dazu, die Angelegenheit zu beschweigen. Doch wer mal richtig zugehört hat – vielleicht sich selbst –, was ein Mann erzählt, dem die Haare ausgehen, der eine Glatze bekommt, erhält eine Vorstellung von den Tiefen der Verzweiflung, in denen man hier versinken kann. Der Verlust des Kopfhaars beschädigt die Substanz der Person.
Zugleich ist dieser anhaltende Selbstbezug hochpeinlich, ein Anlass intensiver Scham. Das nackte Posieren vor dem Spiegel bei der Morgentoilette; der durchdringende Kummer, wenn der Bauch im Gürtel ein weiteres Loch erobert hat; die Niederlagen im Kampf um die Konfektionsgrößen: deshalb am besten gleich Maßanzüge – und den Männern steht, wie gesagt, nur in schwachen Ansätzen eine Industrie bei, die sich dieser Besorgnisse offensiv annimmt.
Der Schuldirektor, der Ressortchef, der Abteilungsleiter, der Familienvater – sie sollten alle als erwachsene Männer draußen in der Welt selbstvergessen tätig sein, statt sich in diesem juvenilen Selbstbezug zu quälen. Weil er so peinlich, ein Gegenstand intensiver Scham ist, wird hier vermutlich niemals ein Diskurs entstehen, der es an Subtilität und Differenzierung mit dem der Frauen über ihre verfallende Jugend aufnehmen kann. Das Schweigen bleibt die bevorzugte Kommunikationsform der Männer.
Dann befindet man sich plötzlich jenseits der sechzig, und das Alter ist keine Drohung mehr, hinter jenem Horizont, das Alter ist in der Nähe, es ist schon da. Der Körper kann nicht mehr daraufhin beobachtet werden, wie er seine Jugendlichkeit bewahrt respektive verliert – wobei der juvenile Körper unveränderlich den fixen Grund bildet –, vielmehr hat der Verfall eine neue Gestalt gebildet, an der keine Beobachtung mehr vorbeiführt.
Im Übrigen gehen die Geschichten auseinander. Die Studienrätin, die sich schon mit 56 aus gesundheitlichen Gründen hat pensionieren lassen; der tägliche Auftritt vor den immer jünger und immer unverständlicher werdenden Schülern inspirierte sie zu keinerlei frischer Anstrengung mehr. Wohl aber der Garten, den sie mit großer Sorgfalt ausgestaltet – Gartenbücher im Hinblick auf ihre Verwertbarkeit durchzuarbeiten, damit taucht sie noch einmal in ihre Jugend ein, in das Studium, wo man auf diese aufgeregte Art Lehrbücher apperzipiert. In der Zeit der Berufsarbeit nie mehr.
Der Garten, dem die Museumskuratorin, seit sie pensioniert ist, so viel Arbeit und Aufmerksamkeit widmet, kann es an Schönheit, Vielfalt, Reichtum mit dem der Studienrätin aufnehmen. Doch bleibt er, wie alle erkennen, die zuschauen, Ersatz, was immer die Kuratorin schwärmt, welche Saat im Frühling aufgegangen, welche Stauden so prächtig ausgelegt haben – in Wahrheit ist die Kuratorin mit all ihren Geisteskräften bei der Ausstellung, die ihr der Museumsverein noch einmal zu organisieren aufgetragen hat. Die Arbeit bleibt ihr zentraler Lebensinhalt; während die Studienrätin dankbar an sich selber das Burn-out-Syndrom diagnostiziert hat, von dem man jetzt so viel in der Zeitung liest. Während die Kuratorin gern bis 67 gearbeitet hätte und über die Auseinandersetzungen spottete, die die Verschiebung des Rentenalters provozierten. In den Sielen, wie man sagt, möchte sie sterben; plötzlicher Herztod bei Recherchen in Wien, die Ausstellung über Sigmund Freud und Aby Warburg, die wieder so ein strahlender Erfolg wird, wie sie weiß.
Der Studienrat, der Museumskurator, wir haben wieder nur die Mittelklassen vor Augen, wenn es um die Arbeit geht, aus der einen das Alter unwiderruflich vertreibt, qualifizierte Arbeit, die einst als Selbstverwirklichung erstrebt wurde. Doch dann schaue ich mir die Supermarktkassiererin an, die, wie sie seit einem halben Jahr mit leise falschem Stolz erklärt, im Sommer in Rente geht, jawoll, sie zieht sich in das Häuschen auf dem Lande zurück, wo es weiß Gott genug zu tun gibt für sie und ihren Alten, und alle, die hören können, vernehmen deutlich, dass er der gemütlichen Dame schwerfällt, der Verzicht auf die Arbeit im Supermarkt. Unvergesslich der Bankangestellte, der offen und schmerzlich erklärte, er gehe in Rente, weil die neuen Geldautomaten ihn in seinem Glaskasten überflüssig machen; kein Kunde braucht mehr die persönliche Ansprache, auf die er sich seit so vielen Arbeitsjahren so gut versteht (und die viele junge Kunden aufdringlich fanden; ihnen passt der anonyme Geldautomat besser ins Konzept).
Die Arbeit, auf die man sich im Lauf der Jahre so gut versteht, sie ändert unter der Hand ihre Gestalt. Der Ressortchef, der einfach keine Lust verspürt, sich auf das Neueste im Netz einzulassen, die Blogger, schon das Wort erfüllt ihn mit Wut. Der Radioautor, der es sich einfach nicht angewöhnen kann, seine Sendungen ausschließlich aus O-Tönen zusammenzusetzen, als wären sie ein Film. Der Psychotherapeut, der die allerneuesten Konzepte, die ihm seine Klienten antragen, nicht mehr schweigend unterlaufen kann, sondern sich zu Gegenreden provoziert fühlt – zu schweigen davon, dass sein Gehör nachlässt und er viele Worte falsch versteht. Hier lauern furchtbare Schrecken. Mein alter Vater arbeitete bis zu seinem 75. Lebensjahr immer mal wieder in seinem Beruf als Wirtschaftsprüfer – aber eines Tages verfiel vor seinen Augen die Firmenbilanz, die er hätte kontrollieren sollen, wie die sprichwörtlichen trockenen Pilze, und es war vorbei mit der Arbeit.
An dieser Stelle hat gern die Kulturkritik ihren Auftritt, die gute alte Zeit. Damals, klagt der Psychotherapeut, konnten die Klienten ihr Seelenleben noch spontan zur Sprache bringen und waren nicht durch in der Zeitung angelesenes Pseudowissen überfremdet. Damals, klagt der Radioautor, war klar, dass ein gutes Hörstück im Hinblick auf Komposition geschrieben sein muss und nicht so zusammengebastelt. Damals, klagt der Ressortchef, war das Zeitungmachen noch eine Profession, die man geduldig zu erlernen hatte; während die jungen Leute heutzutage alles aus dem Stand machen wollen. Damals, klagt der Bankangestellte, pflegte die Sparkasse noch den Kontakt zu ihren Kunden; auch Geldgeschäfte waren etwas Persönliches. Ich bin sicher, dass sich die freundliche Matrone aus dem Supermarkt hier einreihen kann mit ihrer höchsteigenen Klage über die neumodische Zeit. Ich selber habe als Kunde dem Aufstieg und Niedergang des Supermarkts beigewohnt – das Wort „Niedergang“ macht die Angelegenheit zu einer der Kulturkritik, neutrale Beobachter sprächen von Wandel und Transformation. Warum soll das Bankgewerbe, die Psychotherapie, das Radio-Feature, der Supermarkt um – sagen wir: 1990 die perfekte Form besessen haben, die jetzt unwiderruflich verfällt?
Der Standpunkt liegt diesseits – respektive jenseits – der sechzig, wenn es zur Pensionierung, Verrentung, zum Ausstieg aus dem aktiven Dienst kommt. Die Kultur, die Gesellschaft, die Zeit, die Welt, die sich unverkennbar im Niedergang und Verfall befindet, das ist die Kultur, die Gesellschaft, die Zeit, die Welt, an der du nur noch gebremst mitwirken kannst. Und das ist unverzeihlich – daher die Kulturkritik. Gerade alternde und alte Menschen können sich in dramatische Hasstiraden auf die unrettbare Gegenwart hineinsteigern. Sie bleiben folgenlos; denn es führt kein Weg zurück, kein verrenteter Kassierer wird von seiner Bank unter Demutsgesten zurück an den Schalter gerufen, weil der anonyme Geldautomat das Geschäft ruiniere.
Die Kulturkritik der Alten, damit sprechen sie ihren Fluch über die Gegenwart aus, die nicht mehr die ihre ist. Verständlicherweise richtet sich die Kulturkritik mit Gusto gegen die Jugend. Sie missachte das Alter; sie verschmähe die Bildung, siehe Pisa; sie ruiniere sich durch Drogen, durch Alkohol, durch Computerspiele. Die jungen Menschen sind außerstande, sich zu vermehren – die Zeitungen reden immer wieder von der niedrigen Geburtenrate: die Deutschen sterben aus. Den Rentner erfüllt das mit höhnischer Befriedigung. Niemand erwartet von ihm einen Beitrag. Der steinalte Millionär J. Howard Marshall, der sich mit jener Marilyn-Monroe-Kopie namens Anna Nicole Smith verband, er machte sich lächerlich, der lüsterne Greis, und stiftete Unheil mit seinen Wohltaten. Das sieht der Rentner gern.
Freilich kann sich der Mann von 45 Jahren einbilden, die Hauptsache stehe noch bevor, der endgültige Erfolg, die schlagende Erkenntnis, das überwältigende Liebesglück. Dann werde das fortlaufende Grübeln und Zweifeln, die ununterbrochene Selbstkritik verstummen. Der Sechzigjährige weiß, dass diese Hauptsache, die immer aussteht, ein Phantom ist. Nie wird die Supermarktkassiererin überraschend zur Filialleiterin berufen; nie trägt man dem Philosophiedozenten den Lehrstuhl in Heidelberg an; nie erscheint die geliebte Person, deren Dasein auf immer beglückt. Die Kulturkritik, dass früher alles besser war und solche Wunder geschahen, soll gegen die Enttäuschung durch die Normalität immunisieren.
Wer diesseits – respektive jenseits – der sechzig ist, hat sie hinter sich. An der Lebensweise, die jetzt beginnt, haben sich in den letzten hundert Jahren unvorstellbare Veränderungen vollzogen; jedenfalls in unseren Gegenden. Die Lebenserwartung steigt; immer mehr Menschen werden immer älter und verbringen selten ihre Zeit damit, im Abendschein auf der Rasenbank am Elterngrab der verlorenen Zeit nachzusinnen.
Und dann gibt es die Luxusblüten dieses Altershedonismus zu bewundern. Die Kreuzfahrt im Mittelmeer, von der das alte Anwaltsehepaar in den Indischen Ozean wechselt und dann in die Karibik, auf Dampfern, die New Yorker Wolkenkratzern ähneln, bloß liegen sie quer. Das Asternpalais in Potsdam, in Rottach-Egern oder in Bad Wildungen, das die Bequemlichkeiten des Altersheims mit den Vorzügen des Luxushotels verbindet; ab 1.300 € monatlich. Mag sein, dass der Mann von 62 Jahren, den man kürzlich mit acht Kilo Marihuana auf einer Autobahn Mecklenburgs erwischte, auf die Schnelle das Vermögen einsammeln wollte, das ihm dort Zugang verschafft; warum soll diese Art von Kriminalität den Jungen vorbehalten sein?
Eine besonders sumpfige Sumpfblüte – sagt die Kulturkritik – stellte diese Anzeigen- und TV-Kampagne dar, in der alte Damen splitternackt für Kosmetikprodukte Reklame machten. Elke, 63, beispielsweise, ehemals Außenhandelskauffrau der DDR, die mit Textilimporten für die verzweifelten Exquisit-Geschäfte befasst war, wo die modisch ausgehungerte Bürgerin des Realsozialismus Kleidung kaufen konnte, die nach Westen aussah. Man braucht vor dem Alter keine Angst zu haben, sagten Elke und die anderen nackten Damen der Kampagne; mehr noch: Alter im Sinn von Abstieg und Verzicht gebe es nicht. Du kannst mit 63 Aktmodell werden, was dir mit 36 ganz unmöglich war.
Und am Mittwochabend in Clärchens Ballhaus in Berlin-Mitte, wo Siggi, 66, mit dem flotten Bärtchen und dem eierschalenfarbenen Dreiteiler schon wartet, um dich zur Swingmusik der Dreißiger zu schwenken, als wärst du sechzehn (in welchem Alter du niemals Swing getanzt hättest). Oder du gehst ehrenamtlich in die JVA und befreundest dich mit Jana D., die dich anfangs ablehnt, weil du ihr zu alt und zu bourgeois bist. Aber du gewinnst ihr Vertrauen dank deiner Ruhe und Gelassenheit; sie klagt dir ihr Leid über den fürchterlichen Gefängnisalltag, schaut deine Urlaubsfotos an, spielt mit dir Rommé. Und um das Maß voll zu machen, verwandelt eine angesehene Illustrierte diese Stoffe auch noch in Storys samt Fotoporträts der Heldinnen und Helden. Diese Storys sind sauber recherchiert und haben gewiss draußen in der Wirklichkeit stattgefunden. Damit sie ihre Bedeutung rausrücken, muss man sie aber, wie der Terminus technicus lautet, den der amerikanische Soziologe Erving Goffman dafür erfunden hat, „hochmodulieren“, auf das Niveau des Symbolischen heben, zu einer Aussage über das Insgesamt unserer Gesellschaft ausgestalten. Das Alter gibt es nicht, lautet diese Aussage. Oder, noch besser: Im Alter erreicht man, was man in der Jugend gewünscht, was einem der weitere Lauf der Begebenheiten aber versagt hat, man unternimmt abenteuerliche Reisen, man posiert angstlos als Aktmodel, man tut Gutes, indem man selbstlos Knastbrüder mit seiner Aufmerksamkeit beschenkt. Das Alter ist keine Zeit des Abschieds und Verzichts, im Gegenteil, es ist die Zeit der Erfüllung. Hier findet endlich das unentfremdete Leben statt.
Versteht sich, dass wir hier nur eine der kursierenden Mythologien vor Augen haben. Die andere malt schwarz. Statt von der Erfüllung, die am Ende kommt, handelt sie von der endgültigen Verarmung. Der Radioautor, der wegen der veralteten Machart seiner Sendungen keine mehr verkauft, muss entdecken, dass seine Rente kaum für die Miete reicht.
Vor allem konzentriert sich die Verarmungsangst auf das Geld, das im Alter aus anderen Quellen fließen muss, weil die Erwerbsarbeit ausfällt. Die Frau, die voller Verzweiflung anruft, wie es denn um die Witwenrente stehe? Wann ihr Mann verstorben sei?, fragt der Berater. Vor einer Viertelstunde. – So gibt es Informationsabende, an denen sich die Geängstigten den Angststoff besorgen können. Die regelmäßigen Bescheide, dass es dreihundert, vierhundert Euro geben werde, steigern regelmäßig die Depression.
Als zentrale Mythologie, gewinnt man den Eindruck, wirkt sich hier die Statistik aus. Die Lebenserwartung steigt, wie gesagt. Werden Männer heute durchschnittlich 76 und Frauen 82 Jahre alt, so gestaltet sich die Lage im Jahr 2030 schon so, dass Frauen 86 und Männer 81 Jahre alt werden. Um Himmels Willen, denkt der Zeitungsleser, Radiohörer, selbst wenn die Rente allgemein gesichert wäre – was sie bekanntlich nicht ist –: Wer soll für den Lebensunterhalt dieser Greisenmassen aufkommen?
Unmerklich, sagt die schwarze, von der Statistik befeuerte Mythologie, verwandeln sich diese Greisinnen und Greise sämtlich in Pflegefälle. Heute existieren ungefähr neuntausend Heime, in den circa siebenhunderttausend von ihnen leben. Schon jetzt reicht das Geld kaum aus, um einen erträglichen Tageslauf zu sichern.
Auch hier kann die Recherche in vielen einzelnen Fällen plausible Erzählungen erbringen. Was aber im Großen sich auswirkt, das ist die Mythologie, die hier die andere Seite von Kreuzfahrten in der Karibik, des Tuskulums in Brandenburg malt. Das schwarze Gegenbild des unentfremdeten Lebens, zu dem man nach einer Arbeitsbiografie als Angestellter angeblich gelangt. Abhängig vom Pflegepersonal, verwirrt kindischen Ritualen hingegeben, herumgeschubst, verarmt, unselbstständig und keine liebende Mutter, kein beschützender Vater mehr in der Nähe. Die Zukunft ist verschwunden. Man kann nur noch den Tod erwarten.
MICHAEL RUTSCHKY, Jahrgang 1943, ist Publizist in Berlin. Sein letztes Buch „Wie wir Amerikaner wurden. Eine deutsche Entwicklungsgeschichte“ ist bei Ullstein, Berlin erschienen. 204 Seiten, 20 Euro