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Archiv-Artikel

Der Stuttgarter D-Day

Im Stuttgarter Polizeipräsidium wird der D-Day geplant. 9.000 Polizisten sollen anrücken, wenn der Südflügel des Hauptbahnhofs und Bäume im Schlossgarten fallen. Das ganze Areal soll mit einem massiven Zaun abgeriegelt werden, damit die Abriss- und Abholzarbeiten zeitgleich und ungestört vonstattengehen können. Die Polizei spricht selbst von „gigantischen Sicherheitsmaßnahmen“. Ein Besuch der Planungszentrale in der Hahnemannstraße

von Josef-Otto Freudenreich

Das große Geheimnis hat einen Namen: Arnulf-Klett-Saal. Ein schmuckloser Raum im vierten Stock des Stuttgarter Polizeipräsidiums, kaum 60 Quadratmeter groß, Blick auf einen Weinberg. Ein halb verhungerter Ficus benjamina steht im linken Eck, ein Kretschmann im schwarzen Rahmen im rechten. Darüber die Landesfahne, notdürftig befestigt. Die Pflanze hat eine Polizistin mitgebracht, zwecks Aufhübschung der Örtlichkeit. Der Ministerpräsident im Bild kommt von einem Kollegen, der den Grünen leiden kann.

Neben Kretschmann klebt ein Zettel, auf dem „Friede für Isa“ steht, womit keine Person, sondern die Informationssammelstelle gemeint ist. Seit Geißlers Peacepolitik hofften sie darauf, spottet ein Kommissar und zieht den Vorhang hinter sich zu. Er fürchtet keine neugierigen Blicke vom Weinberg draußen, sondern den Zug durch die undichten Fenster. Ansonsten das Übliche: Computerbildschirme (14), Stellwände (6), auf denen Südflügel und Schlossgarten steht, Beamer und ein Uraltfernsehgerät.

Im Arnulf-Klett-Saal wird der „D-Day“ geplant, wie sie im Präsidium sagen. Er könnte zum größten Einsatz der baden-württembergischen Polizei werden – so er denn stattfindet.

Seit einem Monat herrscht hier Hochbetrieb. 40 Personen umfasst der Planungsstab, darunter die besten, die die Polizei zu bieten hat: Direktoren, Oberräte, Räte und Hauptkommissare. Besonders gefragt sind die Kollegen aus Freiburg, die beim Papstbesuch bewiesen haben, dass sie den Stellvertreter Gottes in riesigen Menschenmengen mit 5.000 Beamten schützen können. Diesmal ist es das Baurecht der Bahn, das geschützt werden soll. Und weil deren Vorhaben – Abriss des Südflügels und Abholzen eines Schlossgartenzipfels – ein sehr umfängliches ist, sehen sich die Hüter der staatlichen Ordnung vor gewaltige Probleme gestellt.

Das Geld gehört nicht dazu. Obwohl die Polizei keines hat, ja pleite ist, wie jetzt die CDU und die Gewerkschaften sagen, ist das martialische Aufgebot gesichert. Finanziell gesehen. Woher das Geld kommt, weiß man selbst im Präsidium nicht zu erläutern und verweist auf das Innenministerium, das alles abgesegnet hat. „Es ist halt da“, heißt es lapidar in der Hahnemannstraße. Irgendwie würden sie die S-21-Kosten, die sie seit der ersten Montagsdemo im November 2009 auf 25 Millionen Euro beziffern, schon finanziert kriegen.

Viel problematischer ist der geplante Aufmarsch. Er soll ja nicht mehr so chaotisch vonstattengehen wie am 30. September 2010, als Wasserwerfer zur Konfliktlösung aufgefahren wurden, als dem „rustikalen Einsatz" der nötige personelle Unterbau fehlte, als ganz Deutschland entsetzt war. 14 Hundertschaften. Viel zu wenig. Diesmal sollen es insgesamt 9.000 Beamte richten, die in drei Schichten zu je 3.000 hellwach sein sollen. Rund um die Uhr. Vor und hinter einem massiven Zaun, der Südflügel und Schlossgarten komplett abriegeln soll. Als Regenerationszone ist die Cannstatter Straße gedacht, auf der 400 Mannschaftswagen Platz finden sollen, unbehindert vom fließenden Verkehr, der bereits am Pragsattel und in Degerloch umgeleitet werden soll.

Hotelbetten für tausende Polizisten gesucht

Aber bis es so weit ist, müssen diese Hundertschaften erst mal herbeigeschafft werden. Mit eigenen Kräften geht das nicht, also müssen andere Bundesländer helfen, bis hinauf nach Schleswig-Holstein, womit neue Herausforderungen zu bewältigen sind. Wo sollen die Zugereisten schlafen? Früher hat man sie in Zelte und Turnhallen gesteckt, aber das lassen Gewerkschaften und Personalräte nicht mehr zu. Die Abteilung Logistik sucht deshalb händeringend Hotelbetten, die so einfach nicht zu haben sind. Welcher Herbergsvater blockiert schon ganze Etagen, wenn er nicht weiß, wann seine Gäste kommen und gehen? Deshalb fragen die Zimmerfahnder bereits in Mannheim nach. Ausgenommen sind Angebote, die unter der Rubrik Ferien auf dem Bauernhof laufen.

Nun liegt es in der Natur der S-21-Sache, dass das Ein- und Auschecken nicht exakt genannt werden kann. Zunächst sollte, der Demokratie halber, die Volksabstimmung am 27. November abgeschlossen sein. Danach muss die Polizei auf die Botschaft der Bahn warten, die ihr versichert hat, zwei Wochen vorher zu melden, wann sie gedenkt, abreißen und abholzen zu lassen. Das hinterlässt im Polizeipräsidium ungute Gefühle aus zwei Gründen: Erstens, heißt es intern, war auf Grube & Co. noch nie Verlass. Ständig wechselnde Gesprächspartner, ständig wechselnde Ansagen. Zweitens ist der Zeitplan so eng gesteckt, dass eigentlich sofort nach dem Volksentscheid angefangen werden müsste. Was ist dann mit der Vorwarnzeit von zwei Wochen?

Innerhalb von drei Monaten will die Bahn die Fakten geschaffen haben: Südflügel platt, ein Zipfel des Schlossgartens leer. Weil aber alles in einem Arbeitsgang erledigt werden soll, der Abriss auf ein Vierteljahr und das Sägen auf zwei Monate angesetzt ist, ist Deadline am 29. Februar 2012. Dann beginnt die Vegetationsperiode und damit das Verbot, Hand an die Bäume zu legen. Fröhliche Weihnachten also am Zaun?

Das missfällt dem Polizeisprecher Stefan Keilbach (49). Er will nicht, dass seine Kollegen an Heiligabend in der Kälte Dienst schieben müssen. Sie hätten ohnehin schon viel zu erdulden, würden beschimpft und bespuckt und schöben einen Berg Überstunden vor sich her, klagt er, und manchmal beschleicht ihn wohl das Gefühl, stellvertretend für andere den Kopf hinhalten zu müssen. Seitdem der Erste Hauptkommissar nicht mehr dem alten Präsidenten Siegfried Stumpf auf den Treppen hinterherhetzen muss, kann er etwas unbeschwerter reden, was nicht heißt, dass das auch andere dürfen. Der neue Chef, Thomas Züfle, ist zwar etwas entspannter, aber auch keine Plaudertasche. Für ihn ist Schweigen, so seine Botschaft an die Untergebenen, eine „berufliche Selbstverständlichkeit“.

Wenn sein Sprecher spricht, gilt es deshalb, genau zuzuhören. „Wir müssen mit allem rechnen“, sagt Keilbach. Deshalb die 9.000 Zaunwächter, die natürlich „nicht auf einen Schlag“ dort stehen werden. Das ist ihm wichtig klarzustellen. Deshalb die Hilfstruppen aus den anderen Bundesländern, „weil sonst keine Streife mehr fährt“. Deshalb das hermetisch abgeriegelte Gelände, damit nicht, wie weiland bei Ministerpräsident Mappus, wieder die Wasserwerfer ausrücken müssen. Solche Bilder wolle die Stuttgarter Polizei „nie wieder“ sehen, wenngleich sie in Berlin und Hamburg üblich seien. In der Landeshauptstadt gebe es so etwas wie eine „mentale Blockade“, die Spritzenautos betreffend, vermutet Keilbach.

Aber: Weiß man, fragt er sich, was der Widerstand plant, was die Rockenbauchs und Dahlbenders im Schilde führen? Und erst die Hardcore-Truppen der Parkschützer, die ihn im Internet ungeniert als „Arschloch“, das wegmüsse, beschimpfen? Alles Gründe für den „gigantischen Sicherheitsaufwand“, den er vorläufig auf einen zweistelligen Millionenbetrag schätzt.

Die 20 Haftcontainer auf dem Wasen haben Büroniveau

Eher unspektakulär und preisgünstig erscheinen ihm in diesem Zusammenhang die „Gefangenensammelstellen“, behördlich abgekürzt Gesa. Die Container auf dem Cannstatter Wasen dünken ihm notwendig, weil im Polizeipräsidium nicht genug Platz ist. Die 80 Ausnüchterungszellen dort sind meist voll. Im Volksmund firmieren die Gesa auf dem Wasen als „Containerknast“, was Keilbach für unangemessen hält. 20 an der Zahl werden es sein, knapp unter 100.000 Euro werden sie an Miete kosten, dafür aber sind sie auch ordentlich ausgestattet, um nicht zu sagen maßgeschneidert für den erwarteten Delinquentenkreis von vier- bis fünfhundert Personen. Einzelzimmer, fließend Warmwasser, Toilette, Männlein und Weiblein, Jung und Alt getrennt. Nur die Türen können nicht von innen geöffnet werden und die Fenster auch nicht.

„Wir sprechen von Bürocontainern“, beruhigt Keilbach, „nicht von Menschenhändlercontainern.“ Schließlich sei der Polizei die europäische Menschenrechtskonvention bekannt, die ein Mindestmaß an Quadratmetern (fünf) verlange, und der Stuttgarter kenne solche Wohnmobile noch von der Leichtathletik-Weltmeisterschaft 1993 und dem 125-Jahr-Auto-Jubiläum, das die Firma Daimler vor dem Neuen Schloss mit solchen Häuschen gefeiert hat. Um der Debatte die Schärfe zu nehmen, will die Polizei demnächst die Presse zu einer Besichtigung eines Musterhauses einladen.

Die Idee, Tanja Gönner fürs Probewohnen zu begeistern, die polizeiintern ventiliert wird, ist vielleicht nicht so gut. Besser wäre es, Spezialisten aus der Abteilung Wirtschafts-, Rauschgift- oder organisierte Kriminalität zu präsentieren. Sie haben, berichten Insider, alle einen dicken Hals. Statt Steuer-CDs, Drogen- und Menschenhändler zu überprüfen, statt Telefone von Straftätern zu überwachen, nehmen sie die Personalien von S-21-Gegnern in der Gesa auf. So bereits geschehen nach dem 30. September, gut und gern 1.500 Mal, und so wird es wieder passieren, wenn der D-Day eintritt. „Die Einzigen, die sich darauf freuen“, kommentiert ein Kommissar, „sind die Kriminellen und die Zuhälter aus dem Ostblock. Sie bringen ihre Frauen gefahrlos im Land unter.“