: Menschenzoo der absonderlichen Verhaltensweisen
ERZÄHLUNGEN Ursula März porträtiert unauffällige ZeitgenossInnen, die fast ganz aus Versehen straffällig werden
RichterIn müsste man sein. Man würde sicher einen tiefen Einblick in die Möglichkeiten menschlicher Daseinsformen bekommen. Und oft würde man keine Kriminellen vor sich haben, sondern ganz gewöhnliche ZeitgenossInnen, die ihr Leben und ihre Handlungen zeitweise nicht völlig unter Kontrolle hatten und sich unversehens als Angeklagte wiederfinden.
Die Literaturkritikerin Ursula März hat für ihre erste belletristische Veröffentlichung, die unter dem Titel „Fast schon kriminell“ erschienen ist, ebensolche etwas missglückten Lebensläufe zusammengetragen. „Die Geschichten dieses Buches entstammen der Realität“, lässt uns das Nachwort wissen, aber selbstverständlich seien die Namen und die narrativen Verläufe der Erzählungen geändert – mit Ausnahme der Geschichte des unter Klarnamen auftretenden Günter Parche, der die Karriere der Tennisspielerin Monica Seles auf dem Gewissen hat, da er ihr im Jahr 1993 mit einem Küchenmesser in den Rücken stach. Das geschah aus Liebe zu Steffi Graf.
Was uns, wenn wir solche Merkwürdigkeiten in der Zeitung lesen, zwar schaudern macht, aber doch recht fern bleibt, holt Ursula März ganz nah heran. Es ist ein Alltag, in dem das etwas Absonderliche ganz allmählich hinübergleitet ins Monströse, wo eine kleine Verschrobenheit sich unmerklich auswachsen kann zur Psychose, wo das geringfügige Übertreten von Grenzen sich irgendwann ausweitet zur kriminellen Routine.
Was gemeinhin als Beziehungstaten bezeichnet wird, tritt in März’ Erzählungen gehäuft auf. Die symbiotische Beziehung zwischen zwei Männern, die Jahre miteinander in derselben Gefängniszelle gelebt haben und sich danach in Freiheit ganz selbstverständlich auch die Wohnung teilen, eskaliert in einem Moment der Aggression. Eine Séance dreier Hobbysatanistinnen läuft etwas aus dem Ruder. Ein eifersüchtiger Ehemann erschießt seine Frau in der Badewanne (allerdings geht diese Handlungsweise doch deutlich über das programmatische „fast kriminell“ hinaus).
Da man sie in dieser Gehäuftheit vorgeführt bekommt, erschrickt man trotz – oder vielleicht auch wegen – der lakonischen Eleganz von März’ Sprache über die leichtgängige Beiläufigkeit, mit der menschliche Beziehungen vom Miteinander ins lebensbedrohliche Gegeneinander übergehen können. Denn dieses Phänomen wird hier so variantenreich wie massenhaft präsentiert.
Doch Ursula März, versierte Leserin, die sie ist, findet auch andere Übertretungen in den Gerichtsberichten, die nicht aggressive Akte gegen Personen als vielmehr sonstige Übersprungshandlungen darstellen. Die tüchtige Chefsekretärin, die ohne Gewinnabsichten einen überzähligen Kopierer mit nach Hause nimmt, nur um sich um ihn zu kümmern, hat von einem Gericht wohl ebenso wenig Verständnis zu erwarten wie jener Mann, der aus hilflosem Liebeskummer das Schaufenster eines Nagelstudios zerkratzt.
Es sind kleine Perlen der Vielseitigkeit menschlichen Verhaltens, die gänzlich unverständlich blieben, würde März sie nicht narrativ umkleiden. Ein erzählter Menschenzoo ist es, der uns aus diesen literarischen Miniaturen entgegenblickt. Ob wir uns aber entscheiden, ihn als Zerrspiegel für uns selbst und unsere nicht ausgelebten Absonderlichkeitspotenziale zu betrachten, bleibt jedem ganz selbst überlassen. KATHARINA GRANZIN
■ Ursula März: „Fast schon kriminell. Geschichten aus dem Alltag“. Hanser Verlag, München 2011, 208 Seiten, 17,90 Euro