Der Tag des dritten Umschlags

Plädoyers im Prozess gegen Andreas Lindner überraschend verschoben: Anwälte des ehemaligen Krankenhaus-Geschäftsführers dimmen die Gesamtschadenssumme um 600.000 Euro nach unten

von BENNO SCHIRRMEISTER

Für die Verteidiger des ehemaligen Klinikum Bremen Ost-Geschäftsführers Andreas Lindner war gestern ein ungewöhnlich erfolgreicher Prozess: Sie haben etwas erreicht. Und zwar wird, das kündigte der Vorsitzende Richter Bernd Asbrock an, die Kammer bisher nicht zur Hauptakte zählende Dokumente einsehen. Sie befinden sich im „Umschlag Nummer drei“ eines Unterordners, der bislang im Polizeipräsidium aufbewahrt wird.

In Umschlag Nummer drei, so vermuten die Verteidiger Knut Marel und Torge Rudek, schlummern Erkenntnisse über die Leistungen der Beraterfirma S&P-Mediconsult – deren Existenz von der Anklage bislang bestritten wird. Sie folgt damit der Einschätzung von Sonderermittler Hans-Jürgen Ziemann, der sich wiederum auf ein Gutachten von Hochschul-Professorin Martina Roes stützte, dessen Datenlage ungesichert geblieben ist.

„Es könnte genauso gut sein“, so Marel in einer Prozesspause, „dass die S&P-Gutachten einen Wert von zwei Millionen Euro hätten.“ Das war eher als sarkastischer Scherz gemeint – „man weiß es ja nicht“, fügte er hinzu. Immerhin, dass es „keinerlei geldwerte Gegenleistung“ für die Zahlung von fast 900.000 Euro an S&P gegeben habe, hätte Staatsanwalt Jörn Hauschild wohl ohnehin in seinem ursprünglich für gestern vorgesehenen Plädoyer nicht behauptet, wenn er es denn hätte halten dürfen. Die Schadenssumme im Anklagepunkt 2 war nach Verhandlungen zwischen ihm, Kammer und Verteidigern auf etwas unter 300.000 Euro gedimmt worden, „allein aus Gründen der Prozess-Ökonomie“, wie Hauschild betonte. „Man will ja auch zu einem Ende kommen.“ Seit gut vier Monaten läuft die Hauptverhandlung, keinen der 57 angeklagten Untreue-Fälle hat die Verteidigung entkräften können, und gemessen an der von der Anklagebehörde kalkulierten Gesamtschadenssumme ist die Korrektur um 600.000 Euro auch nicht als Durchbruch zu bezeichnen: Okay, damit wäre die Schallmauer von zehn Millionen knapp verfehlt. Aber juristisch ist das kaum erheblich. Für diese Woche war ein Urteil erwartet worden.

Das ist nun wieder ein Stück weit entrückt: Am 14. November werde die Kammer das Ergebnis ihrer neuerlichen Beratung bekannt geben, kündigte Asbrock an. Gegebenenfalls müsse dann doch in der Beweisaufnahme fortgefahren werden – wenn sich die Dokumente im Umschlag drei als belangvoll erweisen. „Ich erwarte das nicht“, schränkte er jedoch gleich wieder ein. „Richten Sie sich also aufs Plädieren ein.“

Tatsächlich ist die Schlagkraft der neuen Beweismittel zu bezweifeln: Während sich im Klinikum selbst keine Leistungsnachweise der Firma „S&P Mediconsult“ hatten finden lassen, handelt es sich bei den im Umschlag Nummer drei aufbewahrten Drucksachen laut Hauschild um „nichtdatierte Dokumente“. Die habe Hans Leo Sch. der Polizei nach Beginn der Ermittlungen zukommen lassen: Hans Leo Sch. war Geschäftsführer der S&P-Mediconsult und Prokurist bei Andreas Lindners „Siekertal Klinik-Betriebs-GmbH“. Ihn als Zeugen zu berufen sei „sinnlos“, wie Richter Asbrock klarstellte: Schließlich muss der Mann in Kürze ohnehin vor Gericht erscheinen – als Angeklagter.