: Vierzig Jahre Berliner „Volksgefängnis“
TERRORISMUS Heute jährt sich die Entführung des Berliner CDU-Spitzenkandidaten Peter Lorenz. Damit wurden Gefangene freigepresst. Die Entführer landeten allesamt im Gefängnis
VON CHRISTOPH VILLINGER
BERLIN taz | Ungläubiges Staunen erntet man von den meisten Passanten im Kreuzberger Bergmann-Kiez, wenn man sie darauf anspricht, dass sich hier in einem Keller Mitte der 70er Jahre das „Volksgefängnis“ der „Bewegung 2. Juni“ befand. Heute residiert im zum Keller gehörenden Ladenlokal in der schick sanierten Schenkendorfstraße 7 die „Ambulante Wohnungshilfe“ des Diakonischen Werks. Fast alle der Befragten sind erst in den letzten Jahren zugezogen.
Heute vor 40 Jahren, am 27. Februar 1975, entführte die sozialrevolutionäre Stadtguerilla-Gruppe „Bewegung 2. Juni“ im damaligen Westberlin den CDU-Politiker Peter Lorenz. Und dies wenige Tage vor der Abgeordnetenhauswahl, bei der Lorenz, dem Spitzenkandidaten der CDU, zum ersten Mal zugetraut wurde, die SPD in der Mauerstadt an der Regierung abzulösen.
In einem 1995 erschienenen Interviewband erzählen die bei der Aktion beteiligten Ralf Reinders und Ronald Fritzsch minutiös, wie die Entführung ablief. Der Leibwächter wurde mit einer Eisenstange bewusstlos geschlagen und dann „rasten wir aus Zehlendorf mit 160 Kilometer über die Avus“, in einer Tiefgarage wurde Lorenz in eine Kiste umgeladen und diese schließlich zu viert in den Kreuzberger Keller getragen. Dort wollte „Lorenz die Chefs sprechen, den Kommandeur oder so was“ und die Entführer mussten ihm erst mal klarmachen, dass „es hier keine Chefs gibt“. Dafür spielte man zusammen Schach.
Am nächsten Tag wird eine Erklärung der Entführer zusammen mit dem berühmten Polaroid-Foto des entführten Lorenz veröffentlicht. Sie fordern die Freilassung der in Berliner Gefängnissen einsitzenden Horst Mahler, Verena Becker, Gabriele Kröcher-Tiedemann, Ingrid Siepmann, Rolf Heiler und Rolf Pohle. Außer Horst Mahler gehörten alle zum Umfeld der „Bewegung 2. Juni“. Keiner von ihnen war wegen Mordes verurteilt.
Gegen das Votum des damaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt (SPD) setzen sich innerhalb der Bundesregierung und des Berliner Senats jene Kräfte durch, die für Verhandlungen mit den Entführern und einen Austausch plädieren. Außer Horst Mahler, der für sich einen Austausch abgelehnt hatte, wurden die fünf Gefangenen am 3. März 1975 mit einer Boeing 707 nach Aden im damaligen Südjemen ausgeflogen. Peter Lorenz wurde am 4. März auf einer Parkbank in Wilmersdorf freigelassen.
Parallel zur Entführung fand trotzdem die Wahl in Westberlin statt. Zwar wurde die CDU mit 43,9 Prozent der Stimmen erstmals stärkste Partei, Bürgermeister blieb jedoch der bisherige Amtsinhaber Klaus Schütz (SPD), der nun mit der FDP koalierte.
Von den befreiten Gefangenen schlossen sich Verena Becker und Rolf Heißler der RAF an und kehrten illegal in die BRD zurück. Becker beteiligte sich mindestens am Rande 1977 am Mord am Generalbundesanwalt Buback. Sicher seit Beginn der 80er Jahre arbeitete sie mit dem Verfassungsschutz zusammen. Heißler wurde Anfang der 80er Jahre wegen Mordes an zwei niederländischen Zollbeamten zu „lebenslänglich“ verurteilt, seit 2001 ist er auf Bewährung entlassen. Gabriele Kröcher-Tiedemann soll sich in den folgenden zwei Jahren an einigen Aktionen des internationalen Terrorismus beteiligt haben und wurde Ende 1977 in der Schweiz verhaftet. 1991 aus dem Gefängnis entlassen, starb sie 1995 mit 44 Jahren an Krebs. Rolf Pohle versuchte in Athen unterzutauchen, wurde dort verhaftet und an die BRD ausgeliefert. Er erlag 2004 ebenfalls einem Krebsleiden. Ina Siepmann starb vermutlich 1982 in einem palästinensischen Flüchtlingslager im Libanon.
Keine zwei Monate nach der Lorenz-Entführung versuchte die RAF mit einem Überfall auf die deutsche Botschaft in Stockholm die Aktion der „Bewegung 2. Juni“ zu toppen und die gesamte Führungsspitze der RAF aus dem Gefängnis zu befreien. Diesmal jedoch gab die Bundesregierung nicht nach, bei der Stürmung der Botschaft starben zwei der Geiseln und zwei der Entführer.
Mit einem riesigen Polizeiaufgebot gelang es der Berliner Polizei, die meisten Entführer zu verhaften. Im Aufsehen erregenden „Drenkmann-Lorenz-Prozess“ wurden sie 1980 zu Haftstrafen von bis zu 15 Jahren verurteilt.
Zumindest bei Teilen der damaligen Westberliner Bevölkerung waren die Taten der „Bewegung 2. Juni“ durchaus populär und wurden als „Robin-Hood-Aktionen“ wahrgenommen. So wurde die Schrift „Die Entführung aus unserer Sicht“ mit 30.000 Auflage in viele Briefkästen in der Stadt verteilt. Dies wäre ohne zahlreiche Unterstützer nicht möglich gewesen.