: Die Schuld zieht sich durch
KONSTRUKTION Nazizeit, politisierte Siebziger, Gegenwart: Michael Wildenhain verknüpft virtuos. Aber das hat einen Preis. „Das Lächeln der Alligatoren“
VON FRANK SCHÄFER
Michael Wildenhains neuer Roman erzählt, wie schon sein vorletzter, „Russisch Brot“, von den langen Schatten der deutschen Vergangenheit. Matthias, der Ich-Erzähler, hat einen angesehenen Onkel, der später zu seinem Pflegevater wird. Er ist doppelt promoviert in Psychologie und Hirnchirurgie, eine Koryphäe für Kindergehirne. Ein „schlimmer Finger“ damals, meint hingegen Matthias’ leiblicher Vater, der ständig im Clinch liegt mit seinem Bruder. Bei einem Besuch, in den ganz frühen Siebzigern, schleicht sich der Zwölfjährige auf den Dachboden und sieht dort einen Projektor mit eingefädeltem Schwarz-Weiß-Film. Ärzte operieren darin geistig Behinderte, offenbar ohne Narkose. Der Leser soll schon sehr früh wissen – und deshalb darf man es hier auch verraten –, was der Prof. Dr. Dr. Kastèl zu verantworten hat. Auch um die virtuose Konstruktion dieses Romans würdigen zu können.
Wildenhain spannt einen weiten Bogen von der Nazizeit zum Deutschen Herbst bis in die nuller Jahre der Bundesrepublik und er setzt Reprisen, Motivwiederholungen, Vorausdeutungen und Rückblicke so artifiziell, dass er sich dafür viel Kritikerlob einhandeln wird. Allerdings zahlt „Das Lächeln der Alligatoren“ dafür den Preis einer enormen Künstlichkeit, als wäre das Buch am Reißbrett entstanden. Sehr vieles steht mit sehr vielem sehr offensichtlich in Verbindung. Das beginnt bei dem Grundkonflikt. Matthias’ Bruder Carsten erleidet schwere kognitive Störungen nach einem Unfall ausgerechnet auf dem Landsitz des Hirnspezialisten-Onkels. Fortan legt er nur noch komplexe Muster aus Bauklötzen. Matthias studiert nach seinem Abitur Informatik mit dem Schwerpunkt Künstliche Intelligenz und bekommt nun also die narrative Lizenz, die entsprechenden Fragen zu stellen: Wie definiert sich eigentlich Intelligenz? Ist das, was sein sabbernder Bruder Carsten tut, noch so zu bezeichnen? Und in welches moralische Dilemma begibt man sich, wenn man Intelligenz zu bewerten versucht?
Dieser Themenkreis ist verkettet mit dem Nazi-Schuldkomplex. Am Ende fällt tatsächlich noch das infame Wort vom „Reichausschussmaterial“. Vorher aber verliebt sich Matthias auf Sylt in Marta, die Pflegerin seines Bruders. Wildenhain verrät es, „Marat“, der Jakobiner, und „Marter“ stecken in dem Namen. Während seines Studiums begegnet er ihr wieder, nun deutlich anpolitisiert, als Teil einer Kommune, deren Gesinnung man spätestens erahnt, als „Street Fighting Man“ ausgiebig zitiert wird. Dass auch der dubiose Onkel und jetzige Ersatzvater mit ihr zu tun bekommen könnte, erwartet man ohnehin seit der ersten Szene des Buches. Da wird ihm nämlich gleich eine „Waffe an den Kopf gesetzt“: „Das ist für dich, du Schwein.“
Es ist eine Frage der Betrachtungsweise. Man könnte Wildenhain für seine architektonische Souveränität und Verknüpfungsmanie bewundern – oder mit Robert Gernhardt argwöhnen: „Mein Gott ist das beziehungsreich / Ich glaub, ich übergeb mich gleich.“ Das ist zwar böse formuliert, aber die Richtung stimmt. Der Roman stellt so offensichtlich sein Konstruktionsprinzip aus, dass man ihn zwangsläufig nur noch als Konstrukt wahrnehmen kann. Dabei will der Autor doch gar keine L’art-pour-l’art-Fantasie, sondern einen realistischen, politischen Roman schreiben.
Nicht einmal den beiden Hauptfiguren Matthias und Marta nimmt man ab, was Wildenhain von ihnen behauptet. Das liegt auch an den etwas blutarmen Dialogen. Und an der Dürftigkeit des Sets. Das Buch spielt zu großen Teilen in den siebziger Jahren, aber die Zeit materialisiert sich kaum vor unseren Augen. Es riecht einmal nach Patschuli, zwei Joints werden gedreht, ein paar Polit-Phrasen gedroschen. Warum sich Matthias bei der pflichtschuldig abgehandelten Demo beinahe in die Hosen macht, bleibt ein Rätsel. Die Gefahr teilt sich einfach nicht mit. Auch nicht diese emotionale Gemengelage aus Peinlichkeit und Sensationslust, wenn eine Uni-Vorlesung von linken Aktivisten gesprengt wird. Vielleicht entspricht das dem Habitus des Erzählers, der als Informatiker und späterer Kognitionsforscher nicht zwangsläufig der größte Verbalerotiker sein muss. Es entschuldigt trotzdem nichts.
Zudem unterlaufen Wildenhain immer wieder kleine Ungereimtheiten. Dass Matthias als 19-jähriger Student seinen Onkel/Vater fragen muss, wer Holger Meins war, erklärt sich nur aus dem didaktischen Interesse des Autors. Und dass er Marta, um ihre Härte unter Beweis zu stellen, sich die Schamhaare mit heißem Wachs entfernen lässt, ist ein unverzeihlicher Anachronismus. Gerade in dieser Dekade trug man doch mit allerbestem Gewissen – nach der Natur.
■ Michael Wildenhain: „Das Lächeln der Alligatoren“. Klett-Cotta, Stuttgart 2015, 241 Seiten, 19,95 Euro