Parallelgestallten

Mit diesem Text gewann Johann Trupp einen der drei Hauptpreise beim diesjährigen Literaturwettbewerb Open Mike (neben Tina Gintrowski und Judith Zander) – und den neu geschaffenen taz-Publikumspreis gleich mit. Das Verfahren ging so: Die taz und die Berliner Literaturwerkstatt, die den Open Mike veranstaltet, riefen dazu auf, sich für die Publikumsjury zu bewerben. Unter den BewerberInnen wählte taz-Literaturredakteur Dirk Knipphals fünf JurorInnen aus, die ihren Preisträger bestimmten. Der Preis beinhaltet einen Abdruck der Siegergeschichte in der taz – voilà, hier ist sie. Dass sich sowohl die Publikumsjury als auch die Hauptjury für denselben Autor entschieden, ist Zufall – und zeugt von der Qualität der Erzählung. Johann Trupp wurde 1979 in Kirgisien geboren, emigrierte als Jugendlicher mit seinen Eltern nach Deutschland, wo er heute in Lingen lebt und als Lagerist arbeitet. Dies ist seine erste veröffentlichte Geschichte; der Auftritt beim Open Mike – von dem bereits viele Autorenkarrieren wie die von Karen Duve, Kathrin Röggla oder Julia Franck ausgingen – war seine erste öffentliche Lesung. Alle Texte des Wettbewerbs kann man in dem Band „15. Open Mike“ nachlesen, der soeben im Allitera Verlag erschienen ist (188 Seiten, 12,80 Euro). taz

Erzählung

VON JOHANN TRUPP

Jemand lag ausgebreitet auf dem Asphalt, der leicht nach Regen roch, in einer Menschenmenge, deren pochende rosa Herzen und grüne Gedanken jemand glaubte hören zu können, irgendwo, nicht fern von mir.

Ich wurde nass. Habe den Regen von meiner Nase tropfen hören, habe meine neuen Schuhe auf ihre Festigkeit geprüft, fehlte im Unterricht und hatte zwei ungleiche Augen.

Jemand las gerne Bücher, die jemand nicht imstande zu verstehen war. Hatte zwei ungleiche Augen, die nie zu seinen Hemden passten, war stets traurig und hatte Fernweh.

Die Wärme des Busses lässt die eisigen Fenster von innen beschlagen, ich lege meine Hände ans Fenster und spüre die Feuchtigkeit in meine Poren vordringen. Es liegt viel Schnee, aber ich habe eine bescheidene Kindheit und meine Socken kratzen.

Jemand träumte davonzufliegen. Jemand hatte zwei ungleiche Augen, eines grün, eines blau, war neun und ein Er. Wenn jemand Bus fuhr, wollte er laufen, wenn er lief, wollte er stehen, als er aß, sah er meine Abdrücke, kleine starke Hände, die in die Winterwelt ihm ein Fenster boten. Er verpasste seine Halltestelle, da war ich schon lange fort, im Haus am Rande der Stadt, wo meine Eltern sich nie stritten.

Jemand hatte abgeschliffene kleine Zähne mit einer Lücke, große, nach innen fallende, stets aber wache Augen. Jemand war eine Sie und trug niemals grüne Socken. Jemandes Körperwärme, obwohl schon länger fort, machte den Sitz weich und geschmeidig.

Jemandes Abdrücke am Fenster sehen wie Kronen aus, König und Königin, die ihr Königreich bewachen. Ich sehe den König, Königins Haar kämmend auf einer Kommode sitzen und leicht zur Tür schielen, während das Volk sich gegenseitig in den Schlaf wiegt. Esse einen Apfel, habe Gänsehaut an meinen beiden Wangen und verpasse die Halltestelle.

Während jemand Bus fuhr, machte seine Mutter, die niemals Lockenwickler trug, Tee, während jemand im Königreich war, nahm Mutter, die den Hund nie beim Namen rief, verbrannte Kekse aus dem Ofen, während jemand am Haus vorbeifuhr und reine Gedanken dachte, nippte Mutter am Tee, als jemand eine Halltestelle zurücklief, stoppte gerade ihr Herz.

Ich sitze weinend am Fenster im Haus meiner Eltern, die sich wieder nicht streiten, habe Gänsehaut auf meinen beiden Lippen, eine Zahnlücke und keine Plattfüße.

Ohren füllen sich mit Wasser, mir ist dumpf, kleine Kinder entsorgen ihren Schweiß und Urin im Pool. Es ist Sommer, dessen Ende ich nicht abwarten kann, ich bekomme Busen. Kleine eckige, runde Ereignisse füllen mein Leben. Mal im Gesicht, mal die Beine entlang. Das Wasser ist bissig, chlorhaltig und will nicht nach Pisse riechen. Die Ameisen im Gras sind gerade nicht da, die Sonne ist kratzig und ich höre meinen Eltern beim Streiten nicht zu.

Jemand hat ein Buch dagelassen, jemand, der sich seine Haare von seiner Kusine schneiden lässt, weil Mutter tot ist. Jemand hat Grün benutzt, um Wichtiges zu markieren und Unwichtiges zu streichen, um sich besser zu fühlen, um sich bemerkbar zu machen, jemand, der noch nie eine Nackte sah.

Die Kabine riecht säuerlich, wir stehen splitternackt im Kreis, vergleichen unsere Glieder und sind nicht verlegen. Ich hab nicht den Längsten, aber den Schönsten, er ist gerade, nicht krumm oder nach links gezogen wie bei den anderen. Meine Schamhaare bahnen sich gerade ihren Weg an die Oberfläche. Die Sonne schmerzt auf meiner Haut, ohne Creme spürbar, das Schwimmen überlass ich den anderen, ich lese. Ich verliebe mich in die Margarita, mir ist, als ob ich der Meister sein will, mir ist, als ob ich der Iwan sein will, mir ist der grüne Stift ausgegangen. Mein Freund spricht ein Mädchen an, für mich. Sie ist groß, irgendwie traurig, obwohl sie lacht. Ich fasse sie an, sie hat kleine Härchen am Arm, große Zähne und einen Sprachfehler. Mein Freund sagt, er hat zwei Augen, zeigt auf mich und ist schüchtern, mein Freund sagt, er wird immer traurig, wenn man ihm in die Augen sieht, isst gerne Grünkohl und ist ein guter Brustschwimmer. Sie berührt meinen Freund, während ich sie immer noch betaste. Irgendwann wird sie sich die Brauen zupfen, sich von ihrem herrischen Vater lösen, irgendwann wird sie jemanden finden, der beim Essen schmatzt und alte Radios reparieren kann. Irgendwann wird mein Freund für mich zu einem Niemand, wird in Toiletten Frauen verführen, die nicht stricken können, und sich mit Männern prügeln, die Frauen lieben, die stricken können. An meinen Zehen sind Ameisen. Ich gehe. Dabei vergesse ich mein Buch.

Jemand wird es finden, jemand mit einer Zahnlücke, der Schuppen im Haar hat und nicht schielt, wird es lesen, jemand, der Grün hasst und gestrickte Pullover.

Ich stehe in einem hellen Raum, der versucht, nicht zu stinken und freundlich und entspannend auf mich zu wirken. Überall liegen eindeutige Zeitschriften und aus dem Fernsehen stöhnt es. Ich halte einen Becher, halb schräg unter mein Glied, und sehe, wie das Sperma langsam die Ränder heruntergleitet. Es klopft und eine Frauenstimme, die nicht versucht, freundlich und entspannend auf mich zu wirken, sagt, dass noch andere Spender warten. Ich sehe auf dem Boden des Plastikbechers einen Jemand liegen, jemanden, der Kartoffelbrei spuckend sich in seine Windeln erleichtert und später nach durchzechten Nächten in örtliche Wälder kotzt und pisst. Ich gehe raus, mir ist schwindlig und sitze zu Hause, alleine ohne Fernseher, esse Grünkohl und habe Gänsehaut an einer meiner Wangen. Ich höre, wie mein Nachbar über mir seine neuen Beinprothesen ausprobiert und immer wieder zu Boden fällt. Irgendwann gehe ich zur Arbeit, sehe all diese Menschen, die ich jeden Tag sehe, sehe in ihnen niemanden, der zu Jemandem werden könnte. Sehe, wie sie jemanden lieben, der nicht kochen kann, der Creme gegen Fußpilz benutzt, jemanden, der seine Finger knacken lässt, wenn er sich unwohl fühlt. Jemanden, der vielleicht Grün hasst und mein Jemand sein könnte. Ich habe keine Geheimratsecken und esse Eis auf einem Steg. Der Wind ist bissig und hinterm Horizont will ich jemanden sehen, der auf einem Bett liegt, Grübchen hat und glaubt, Menschenherzen und grüne Gedanken hören zu können, jemanden, der Schuppen hat und einen Mann ansieht, den jemand erst seit gestern kennt.

Er trägt tatsächlich grüne Socken, grashüpfergrün, grün wie die Augen von Scheißhausfliegen, grün wie grässlichste Farbe der Welt. Das Zimmer ziert keine Bilder, nur Glühbirnenlicht. Er hat sauber geschnittene Nägel und kommt in meinem Mund. Wir waren zusammen im Theater, vorher, am Abend, jetzt klebt sein Sperma in meiner Zahnlücke. Sein Glied erschlafft, ich gehe fort. Er wird jemanden haben, später. Jemanden, der ihm kleine, bunte Bilder kauft, glitzernde Miniröcke trägt und Fußnägel mit mattem Lack lackiert. Jemanden, der überall runde, eckige und ovale Lampen aufhängt und ihn ermahnt, wenn seine Hosentaschen ausbeulen, und ihn erträgt, wenn er beim Schlafen furzt. Ich sitze am See, das Wasser hat keine Krümmung, nur eine schwache Atmung. Ich habe Gänsehaut an einer meiner Lippen und möchte ein Kind, das einen Jemand ersetzt.

Den Jemanden, der noch keine Geheimratsecken hat, sich beim Rasieren nie schneidet, Grünkohl liebt, auf Servietten sich Notizen macht und jemanden heiratet, der nicht sein Jemand ist.

Und Schimmel, überall blaugrünbraun schimmernder Schimmel, Schimmel auf mit Sternen verzierten Tapeten, Schimmel hinter halb leeren Schränken mit fettigen Spiegeln, Schimmel in meinem Kopf und meinen beiden Augen. Ich habe Geheimratsecken, suche Kleingeld in Sofa- und Sesselritzen und bin geschieden, ohne Kinder. Weiß behaarter Schimmel auf ungesalzenen Makkaroni in eckigen Tellern.

Jemand lässt sich eine Spritze geben, jemand mag Ärzte nicht, aber ihre sauberen Kittel, hat Mundgeruch vor Aufregung und wird bald Mutter.

Kaltes Bier rinnt meine Kehle hinunter, ich gehe auf einen Mann zu, der mich anlächelt, es ist eine Bar, eine Schwulenbar. Er ist ein Mann, der nie beim Essen lacht, sich nie in der Öffentlichkeit die Hoden kratzt und Politessen mag. Der Sex mit ihm, seltsam, einfach, auch wenn es zum ersten Mal ist, für mich. Meine Wohnung stinkt. Männersex, eine Abwechslung, aber keine Lösung. Meine Frau verließ mich, als ich schlief im Schlafanzug aus Seide und träumte von jemandem, der nicht sie war, jemandem, der abgeschliffene Zähne mit einer Lücke hatte und Spitzenunterwäsche hasste. Sie verdrehte die Beine, wenn sie zum Himmel schaute, ließ Milch versäuern und war meine Frau. Sie war da, als ich einsam war. Konnte mit der Zunge ihre Nase berühren und liebte mich für meine beiden Augen. Sie ging, weil sie nicht der Jemand war, weil sie Grün nicht hasste und ihre Socken nie kratzten. Zu jemandem, der ihr Haar zur Seite streift, wenn es ihr vor die Augen fällt, der Karotten für sie schält und versteht.

Der Schnee ist trocken und kalt, ich forme Schneebälle, rauche ab und zu, rieche an ihren Fingern und bin ganz ruhig. Sie mag Kapuzenjacken nicht, duftet stets wie frisch gewaschen und ist meine Tochter. Wir gehen sonntags frühstücken, sie hat Angst, heiße Brötchen anzufassen, und ich kühle sie ihr. Menschen, die Fußball lieben und nur selten grüne Socken tragen, laufen an uns vorüber.

Sie ist sechs, hat zwei ungleiche Augen, wird erwachsen und irgendwann, irgendwo wird auch sie Spuren an Fenstern fahrender Busse hinterlassen und Menschenmengen sehen, in denen jemand, der Bücher liest, die er nicht versteht, auf einer Bank sitzt und wartet, seine Kissen in der Mikrowelle erwärmt und zwei Augen hat. Jemand, der Tote begräbt und sich selbst schon längst begrub.

Bei meinen Eltern sind wir nicht oft, manchmal, wenn es Vater schlecht geht, ruft uns Mutter und wir sitzen im Haus, in dem niemand sich streitet, und sie nennen meine Tochter ein Findelkind. Sie ist ein Reagenzglasbaby und ich habe sie Lara genannt, sie schläft gerne unterm Bett und liebt mich.

Ich liege auf einem Berg, auf dem höchsten, habe den Himmel, der sich kräuselt, über mir und die Menschheit, die sich suhlt, unter mir. Ich habe aufgesprungene Lippen, eisige Fingerkuppen und bin ganz ruhig.

Jemand beginnt einen Streit, jemand, der sich selbst dafür hasst, schreit die eigene Tochter an, jemand, der krank ist und Schuppen hat.

Ich habe keine Gänsehaut auf meinen beiden Wangen, keine Tränen in meinen beiden Augen, bin einsam geblieben und habe den Berg bezwungen.

Ich sehe Schläuche aus meinen Adern starren, sehe weiße Tapeten und kalte Bilder in diesem meinem letzten Zimmer, sehe Ärzte in sauberen Kitteln um mich schleichen, die das Rauchen nicht aufgeben können, und Patienten, die graue Sportanzüge und hellgrüne Socken tragen und sich dafür schämen, dass sie sterben müssen, und ich sehe sie, meine Tochter. Und jemand ist bei ihr. Ihr Jemand, der keinen Bart trägt, spitze Ohren hat und Teebeutel für sie ausdrückt. Jemand, der ihren Spuren folgte, der sie erkannte, jemand der Hausschuhe für sie vorwärmt, jemand, der versteht.

Feuchte Erde klebt zwischen meinen Fingern, ich höre Regen von meiner Schaufel tropfen, habe keine Geheimratsecken mehr und begrabe gerade jemanden, den ich nicht kenne, jemanden, der nach innen fallende, stets aber wache Augen hat, grauviolettes Haar und nach Krankenhaus riecht. Nur ein paar Menschen sind da, immer, wenn es regnet, sind nur ein paar Menschen da, als ob eine Beerdigung der Sonne bedarf.

Ich höre, wie die nasse Erde kluppenhart auf meinen Sarg fällt, wie sich über mir Menschen in ernstem Schweigen üben, wie sich Tränen und Regen vermischen und der Totengräber, jemand, der Grünkohl isst, zwei ungleiche Augen hat, Berge liebt, hustet und weiß, dass er unsere Tochter lächelnd ansieht.