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Archiv-Artikel

„Alles hängt von der Ukraine ab“

ZUKUNFT Die russische Aktivistin Olga Romanowa ist wenig optimistisch. Im Interview spricht die enge Freundin des ermordeten Kreml-Kritikers Boris Nemzow über Putin, Macht und mögliche Szenarien

Olga Romanowa

■ 48, ist russische Journalistin und politische Aktivistin. Sie ist Gründerin und Vorsitzende der NGO „Rus sidjaschtschaja“, die sich um die Betreuung von Häftlingen kümmert. 2012 bekam sie den Gerd Bucerius-Förderpreis Freie Presse Osteuropa. Sie ist eine enge Freundin des am 27. Februar ermordeten Putin-Kritikers Boris Nemzow. Das Interview wurde vor dem Attentat geführt.

taz: Frau Romanowa, halten Sie soziale Proteste für möglich, wenn die Lage noch schwieriger wird?

Olga Romanowa: Wir müssen darauf vorbereitet sein. Die marginalisierten Schichten werden nicht gegen Putin, sondern gegen die USA und Deutschland demonstrieren. Ihr Hass wird sich gegen uns „Helfershelfer des State Department“ richten.

Was passiert dann?

In fünf Jahren haben wir ein anderes Land, vermutlich eines, wo diese marginalisierten Schichten den Ton angeben. Gewinner wird der Typ Arbeiter der Panzer- und Waggonfabrik „Uralwagonsawod“ sein, der Putin ja schon nach den Protesten 2012 anbot, nach Moskau zu kommen und die Hauptstadt mal richtig aufzumischen. Dieser Schlag übernimmt die Macht, lässt sich volllaufen, ballert erst mal in alle Richtungen, bis eine Zeit der Wirren anbricht. Die Macht fällt dann dem zu, der gerade unterm Baum liegt, sei es der Nationalist Dmitri Rogosin, Verteidigungsminister Schoigu oder auch Alexei Nawalny.

Und wenn es zu einer Palastrevolution käme…

… oder unser Oberst Putin unerwartet stürbe und Neuwahlen angesetzt würden, dann wählt die Mehrheit einen Hardliner aus Putins direktem Umfeld. Aber auch die Tage eines jeden Nachfolgers sind gezählt. Die finanziellen Rücklagen reichen gerade mal für anderthalb Jahre. Bleibt nur zu hoffen, dass es mit dem Atomköfferchen so ist wie mit allem anderen bei uns: längst kaputt, nur hat es niemand bemerkt.

Ein apokalyptisches Szenario ohne Ausweg?

Alles hängt von der Entwicklung in der Ukraine ab. Verliert die Ukraine, haben auch wir keine Chance. Kann die Ukraine den Krieg anhalten, der EU näher rücken oder den Bankrott abwenden, haben auch wir den Hauch einer Chance. Ich rufe den Westen auf, der Ukraine zu helfen. Dort entscheidet sich das Schicksal Russlands, Europas, am Ende das der ganzen Welt.

Ist Russland für die Außenwelt noch empfänglich?

Nein, es hört das Klopfen nicht mehr. Wir leben in einem Kokon und schlafen langsam ein. Was schlüpft, ob Schmetterling oder Drache, hängt von der Umgebung und der Ukraine ab. Uns mit Nadeln zu malträtieren oder mit Zucker zu füttern, macht keinen Sinn mehr. Wir wissen selbst nicht, was in uns steckt.

Die Liste ermordeter russischer Oppositioneller wird länger

In den vergangenen Jahren fielen zahlreiche russische Oppositionelle ungeklärten Tötungen zum Opfer. Einige prominente Fälle:

■  23. März 2013: Ex-Oligarch Boris Beresowski, der nach Auseinandersetzungen mit Russlands Staatschef Wladimir Putin in Großbritannien lebte, wird tot im Badezimmer seines Hauses in Londons aufgefunden. Am Hals des 67-Jährigen werden Strangulationsmale entdeckt. Unklar ist bis heute, ob es sich um Selbstmord oder Mord handelte.

■  16. November 2009: Der russische Anwalt und Korruptionsgegner Sergei Magnizki stirbt im Alter von 37 Jahren in einem Gefängnis in Moskau nach ausbleibender medizinischer Behandlung. Er war nach der Aufdeckung eines Korruptionsskandals festgenommen worden.

■  15. Juli 2009: Die Menschenrechtsaktivistin Natalja Estemirowa wird vor der Tür ihres Wohnhauses in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny entführt und einige Stunden später in der Nachbarrepublik Inguschetien erschossen aufgefunden. Die 50-Jährige war für die Menschenrechtsorganisation Memorial tätig.

■  19. Januar 2009: Der 34-jährige Menschenrechtsanwalt Stanislaw Markelow und die 25-jährige oppositionelle Journalistin Anastasija Baburowa werden nach einer Pressekonferenz in Moskau auf offener Straße erschossen.

23.November 2006: Der russische Ex-Spion und spätere Kremlgegner Alexander Litwinenko, der mit dem britischen Geheimdienst MI6 zusammenarbeitet, stirbt im Alter von 43 Jahren an einer Vergiftung mit radioaktivem Polonium. Zuvor hatte er mit zwei Ex-KGB-Agenten Tee getrunken.

■  7. Oktober 2006: Die Journalistin Anna Politkowskaja wird im Treppenhaus ihres Moskauer Wohnhauses erschossen. Die 48-Jährige hatte immer wieder Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien angeprangert.

■  17. April 2003: Der Abgeordnete und Chef der Partei Liberales Russland, Sergei Juschenkow (52), wird vor seiner Moskauer Wohnung erschossen. (afp)

Begreift die herrschende Elite, wie verfahren die Lage ist?

Selbst der ungebildetste Teil der Elite hat einen Sinn für Realität. Leider gibt es nur ein Mittel zur Genesung: eine schwere Niederlage. Wir müssen gezwungen sein, uns mit den ewig wiederkehrenden Abgründen auseinanderzusetzen – wie Deutschland nach dem Krieg.

INTERVIEW: KLAUS-HELGE DONATH