Das neue Nischen-TV

PROGRAMM Die Zahl der Fernsehsender steigt – wie auch die Vielfalt ihrer Programme. Sie erreichen ihr Publikum vor allem mit einzelnen Inhalten und nicht mehr mit einer unverwechselbaren Sendermarke

Die Macht, ein Publikum dauerhaft zu binden, wird immer mehr zur Nebensache

VON WILFRIED URBE

Den mehr als hundert deutschsprachigen Free-TV-Sendern und genauso vielen Bezahlsendern sowie zahlreichen Video-on-Demand-Anbietern wie Netflix oder Maxdome ist es nicht mehr möglich, die Massen um ein Programm zu versammeln. Ein Beispiel dafür ist „Wetten, dass . . ?“ – zum Schluss zwar noch immer die meistgesehene Show im deutschen Fernsehen, aber mit durchschnittlich rund 6 Millionen Zuschauern längst nicht mehr ein Großereignis, über das sich die gesamte Republik noch nach der Ausstrahlung unterhielt. Bald soll nun in Berlin ein internationaler Medienkongress dieser Frage nachgehen: Was passiert mit dem Fernsehen? Hat traditionelles TV überhaupt noch eine Chance?

„Der Wettbewerb um Aufmerksamkeit war noch nie größer als heute, denn noch nie hat das Publikum so viel Auswahl gehabt.“ Das sagt Lester Mordue. Der ehemalige Programmdirektor von MTV Europe und Exkreativchef sämtlicher Disneysender in Europa organisiert die Konferenz des internationalen Branchenverbandes PromaxBDA. Doch auch wenn der durchschnittliche Fernsehkonsum sich bisher nicht verringert hat, verlieren vor allem die großen Sender an Publikum.

Lee Hunt, international aktiver Marketingstratege, erklärt dieses Phänomen so: „In den USA begann diese Entwicklung mit Pay-TV-Sendern wie HBO, die über hochwertig produzierte Serien mit neuer Erzählweise, etwa ,Breaking Bad‘ oder ,The Walking Dead‘, die Zuschauer überzeugten.“

Videoplattformen wie Netflix führten das fort, beispielsweise mit exklusiven Inhalten wie „House of Cards“. „Früher waren Sendermarken wichtiger als Programmmarken“, betont Hunt, „da kannten die Zuschauer nicht ihr Programm, wussten aber, welchen Sender sie schauen wollten.“

Heute ist das umgekehrt: Attraktive Programme, die linear und beliebig über das Internet abgerufen werden können, entscheiden über den Konsum. Das Wissen um die begehrten Inhalte, das unter anderem über die sozialen Netzwerke transportiert wird, verstärke diese Entwicklung. Die Sendermarke und damit die Macht, ein Publikum dauerhaft zu binden, wird so immer mehr zur Nebensache.

Dass die großen Sender an Reichweite verlieren, hat auch der General Manager der Disney Channels, Lars Wagner, beobachtet. „Aber wir haben auch gesehen, dass die Kleinen überproportional gewinnen, mehr als 15 Prozent des Marktanteils werden mittlerweile von Sendern der dritten Generation gehalten.“ Das hatte Wagner auch ermutigt, in Deutschland einen Disney Channel als Free-TV-Sender zu starten. Der Sender spricht vor allem eine junge Zielgruppe an, für die es normal ist, sich Inhalte unabhängig von einem Programmschema anzuschauen – das zeigt das Beispiel der Telenovela „Violetta“. „Mit zuletzt mehr als 1,1 Millionen nichtlinearen Videoabrufen pro Woche in unserer Mediathek verdoppeln wir nahezu unsere Reichweite“, freut sich der Disney-Chef, „aus wirtschaftlicher Sicht ist das eine interessante Option.“

Der Marketingstratege Hunt jedenfalls sieht für das TV – wenn man es als elektronischen Bildschirm versteht, über den Bewegtbildinhalte konsumiert werden – eine große Zukunft voraus. Was das klassische Fernsehen angeht, ist er skeptisch.

Der Medienphilosoph Norbert Bolz wird noch deutlicher, wenn er sagt, dass die Bedeutung des traditionellen TV kleiner werden und es seinen Platz in einer ökonomisch kaum relevanten Nische finden wird. Aber: „Es bleibt dort auf jeden Fall erhalten. Und zwar aus einem ganz simplen Grund: Die neuen Medien sind attraktiv, weil sie die Aktivität, Interaktivität und Partizipationsbereitschaft der Bürger zu wecken und zu bedienen wissen. Dabei übersieht man leicht, dass es auch eine Lust an der Passivität gibt.“ Das Fernsehen als Leitmedium werde verschwinden – falls das nicht schon geschehen ist.

Das klassische Fernsehen wird uns trotzdem noch ein Weilchen erhalten bleiben. Der Grund dafür ist laut Bolz ein demografischer: das hohe Alter nämlich, das die Babyboomer voraussichtlich erreichen werden. „Solange dieses Publikum noch existiert, wird sich auch die Tristesse der ZDF-Abendsendungen halten.“