: Das Spiel mit dem Feuer
Stuttgart 21 als Ende der Basta-Politik? Nun ja. Im Streit über den Bahnhof stecken auch postdemokratische Lehrstücke: War bereits die Geißler’sche Schlichtung eine Parodie auf echte Bürgerbeteiligung, ist nun die Volksbefragung eine Entmündigung des politisch engagierten Bürgers, eine Farce
Nicht richtig So sehr ich mich über viele Artikel von Herrn Luik gefreut habe, mindestens zweimal muss ich hier aber deutlich widersprechen. Zum einen haben die Grünen schon im Wahlkampf gesagt, dass eine Volksabstimmung angestrebt wird. Das haben alle mitbekommen. Man kann davon ja halten, was man möchte, nun aber zu sagen, dass die Grünen mit der VA ihre Wähler verraten, ist schlichtweg nicht richtig. Der Regierung den Vorwurf zu machen, dass nicht nur Stuttgart abstimmt, dem ist ebenso zu widersprechen. Es geht hier um Mittel des Landes, die eingesetzt werden bzw. deren Ausgabe verhindert werden soll. Und das ist dann eben auch eine Sache des ganzen Landes. Sicher gibt es auch gute, sehr gute Gründe, nur die Region Stuttgart abstimmen zu lassen. Das aber liegt nicht in der Zuständigkeit des Landes, das muss man eben zur Kenntnis nehmen. Michael
von Arno Luik
Ein paar Tage nach den S-21-Anhörungen im Stuttgarter Rathaus im Spätherbst 2010 schrieb ich an den Schlichter:
„Sehr geehrter Herr Geißler, ich möchte Ihnen zu Ihrem Schlichterspruch gratulieren. Sie haben die in Sie gesetzten Erwartungen erfüllt. Die Bürger sind – wenigstens vorübergehend – von der Straße, und Land, Bahn und Bund haben nun die Carte blanche, die sie für ihr milliardenschweres Projekt unbedingt brauchten: Die von Ihnen geforderten Nachbesserungen sind nun die Begründung für milliardenschwere Kostensteigerungen. Und auch politisch ist Ihr Schlichterspruch ein Lehrstück der besonderen Art: Die Bürger haben gelernt, dass sie mitreden, mitdiskutieren dürfen, aber dann, wenn es ums Mitbestimmen und Mitentscheiden geht, sie doch nur Zuschauer sind. Der Souverän ist also kein Citoyen, sondern nur ein TV-Konsument.“
So weit der Brief, so weit meine damalige Einschätzung der Dinge. Aber halt, halt, die Bürger dürfen nun doch mitbestimmen. Es gibt sogar eine Volksbefragung! Was wollt ihr mehr? Ja, die Bürger dürfen mitbestimmen, aber sie dürfen es doch nicht. Denn allen ist klar, vor allem den Grünen, die auf diese Abstimmung politisch setzten, dass das Abstimmungsquorum unerreichbar hoch ist.
Die Volksbefragung, böse oder nur scharf formuliert, sie ist dies: eine Farce. Sie ist eine Entmündigung der politisch engagierten Bürger. Die Geißler’schen S-21-Anhörungen und die Volksabstimmung: postdemokratische Lehrstücke. Schlimmer noch: ein Spiel mit dem Feuer.
Um diese scheinbar widersinnige These zu erklären, ein kurzer Rückblick: Ziemlich verwundert blickte Deutschland im Sommer 2010 nach Stuttgart. Da lief Überraschendes ab: Eine konservative Stadt übt den Aufstand. In einer konservativen Stadt gehen erst Hunderte, dann Tausende, dann Zehntausende wöchentlich auf die Straße, es gab eine Großdemonstration mit beinahe 150.000 Menschen.
S 21 wird zur Chiffre für Bürgerwiderstand
Was in Stuttgart im Sommer und Herbst 2010 geschah und auch heute noch geschieht – so etwas hat es in keiner deutschen Stadt jemals gegeben, nicht mal im Leipzig der Vorwendezeit, es war und ist einmalig. Erstaunt bis verwirrt bis geschockt schauten auch die politisch Verantwortlichen aus Berlin nach Schwaben. Und das, was sie in Berlin zu Stuttgart sagten, zeigt, wie weit sie von den Bürgern entfernt, wie sie gefangen sind in Floskeln und in ihrem Denken
Als ich im Stern im Frühjahr 2010, lange vor den Großdemos, vorschlug, eine Geschichte über Stuttgart 21 zu machen, da lachten viele Kollegen auf. Was ist denn das? Stuttgart 21? Was soll das? Ein Bahnhof? Sollen die in Stuttgart ihren Bahnhof doch versenken, wenn sie das gut finden, im Dunkeln zu fahren, sollen sie doch! Für eine Lokalposse hielt man in Hamburg die Vorgänge in Stuttgart: Die Schwoba, die kennet doch alles außer Hochdeutsch, also auch Unsinn bauen. Lass sie doch. Ich ließ nicht.
Einige Artikel später, einige Enthüllungen später, ich brachte in diesen Artikeln Geheimgehaltenes an die Öffentlichkeit, geheim gehaltene Akten, unterdrückte Gutachten der Bahn und des Landes, die zeigten, dass es begründbare Zweifel an dem milliardenschweren Bau- und Bahnprojekt gab und gibt.
Die Lokalposse war plötzlich ein bundesweites Thema, mehr noch: S 21 eine Chiffre für Bürgerwiderstand gegen Großprojekte. Für Bürger, denen nicht egal ist, was mit ihrem Gemeinwesen geschieht, denen nicht egal ist, wenn Geschichte und Gesicht ihrer Stadt malträtiert werden. S 21 also eine Chiffre für Mutbürger. Für hochinformierte, aufgeklärte Bürger, die Fragen stellen: nach dem Sinn des Ganzen. Dem Nutzen. Den Kosten.
„In der Gesellschaft brodelt es“, schreibt der Soziologe Oskar Negt in seinem neuen Buch „Der politische Mensch“. Das Gemeinwesen sei aufgewühlt und trotzig, gespalten und rebellisch. Ich sehe es positiver: Die Bürger wissen mehr als früher, sie lassen sich nicht mehr so schnell verführen. Sie misstrauen den Heilsversprechungen der Politik. Und diese Bürger werden einer Politik lästig, die mit merkwürdigen Worten und lächerlichen Werbesprüchen ihre Großprojekte durchsetzen will: Magistrale. Zukunftsfähigkeit. Hochgeschwindigkeitskorridore. Das neue Herz Europas.
Das beleidigt den denkenden Bürger, diese Sprache erschlägt, sie schafft Misstrauen, sät Zweifel: Hartz IV, Agenda 2010, S 21 – es sind Kunstbegriffe, die sich nicht erklären, die nur als Bedrohung wahrgenommen werden. Und den Bürger nicht ernst nehmen, ihn zum Objekt einer Basta-Politik degradieren. Nicht begreifen, dass der Bürger selber denken kann. Dass er sich ernsthaft Sorgen macht, was mit seinem Gemeinwesen geschieht.
Und das ist ein Grundproblem, das S 21 – stellvertretend für die meisten Großprojekte hierzulande, sei es die dritte Startbahn am Flughafen in München, seien es die geplanten „Stromautobahnen“ – offenbarte: Die Politik unterschätzt ihre Bürger.
Und der aufgeklärte Bürger – er misstraut der traditionellen Politik, und dieses Misstrauen, es nährt sich auch aus der Geschichte der vergangenen Jahre: Der Glaube an die sogenannten Eliten der Gesellschaften hat gelitten in der Finanzkrise, und davor schon wegen Schröders Basta-Politik. „Alternativlos“, so nannte Schröder gern seine politischen Beschlüsse. „Projekt ohne Alternative“, so steht es in den S-21-Werbebroschüren der Bahn.
Sind die Dinge wirklich alternativlos? Das glauben die Bürger nicht, ja, es sind vielleicht rebellische Bürger – aber es sind auch Bürger, die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen. Es sind Bürger, die wissen, es gibt immer Alternativen. Sie haben, ja, so kann man es sagen: eine Tapferkeit, die Politik und die Wirtschaft kränkt.
Regelrecht fassungslos starrte Bahnchef Rüdiger Grube nach Stuttgart. Er verstand nicht mal ansatzweise, was die Leute auf die Straße trieb. In einem Gespräch mit mir sagte er: „Wir machen den Stuttgartern doch ein Geschenk! Sie sollen sich doch freuen.“ Das klang, als ob die Stuttgarter kleine Kinder seien, die nicht begriffen, was für tolle Sachen Papa vorhatte.
Und Kanzlerin Angela Merkel sagte: Man brauche S 21 unbedingt, an dem Bau entscheide sich „die Zukunftsfähigkeit Deutschlands“. Wenn S 21 nicht komme, dann könne man kein Großprojekt mehr bauen im Land, behauptet die Kanzlerin. Ein absurdes Argument. Als Kalkar gestoppt wurde, der Schnelle Brüter oder die Atomanlage in Wackersdorf oder in Wyhl, war die Demokratie auch nicht am Ende. Sie hatte nur sinnlose Projekte verloren.
Worum geht es denn? Um technologische Erneuerung? Um technischen Fortschritt? Es geht um einen Bahnhof. Der von 17 Gleisen auf 8 Gleise reduziert und tief unter der Erde verschwinden soll.
Den Bürgern geht es um das Gesicht der Stadt
Aber es ging und geht bei S 21 noch um viel mehr, und das macht auch die besondere Qualität des Widerstands aus: Die Bürger sorgen sich um mehr als Verkehrsprobleme, sie sind nicht damit zu bezirzen, dass man ihnen verspricht, in ferner Zukunft eventuell ein paar Minuten schneller in Ulm oder München sein zu können. Diese technokratische Vision beleidigt sie geradezu.
Ihnen geht es um andere Werte: Ihnen geht es um das Gesicht ihrer Stadt. Die Geschichte ihrer Stadt. Ihnen geht es um Lebensqualität, die nicht in Minuten und Hochgeschwindigkeit zu berechnen ist. Pathetisch gesagt, es geht ihnen um Heimat. Klaglos haben die Bürger in Stuttgart hingenommen, dass ihre Stadt nach dem Krieg für den Autoverkehr zurechtgestutzt wurde, klaglos haben sie geduldet, dass in der Innenstadt immer wuchtigere Betonkästen vor allem von Banken und Versicherungen hochwuchsen. Klaglos haben sie das alles mitgemacht, klaglos? Scheinbar klaglos, gelitten haben sie wohl doch – mit S 21 war nun der Punkt erreicht, der zur Explosion führte.
Aber S 21 ist nicht, wie manche glauben diffamierend sagen zu können, eine Rebellion von Romantikern. Wutbürger, die am Gestrigen festhalten. Das ist es eben nicht, es sind Bürger, die fundamentale Zweifel an der Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit von Politik und Bahn (oder auch: Wirtschaftskonzernen) hegen. Und daher den Mut finden, sich einzumischen.
Es ist also ein Konglomerat von vielen Gründen, das den Widerstand bei S 21 so stark gemacht, völlig disparate Bevölkerungsgruppen zusammengeführt hat. Aber es ist vor allem ein Widerstand aus der Mitte der Gesellschaft – das macht ihn so lästig für die Politik und die Bahn.
Stuttgart 21. Geißlers Schlichterspruch – was heißt das nun alles für das Land? Was zeigt das für die Politik? Was bedeutet es für die Wirtschaft? Lässt sich aus Stuttgart 21 etwas lernen?
S 21, Geißlers Schlichtungsspruch wird, jenseits von allem publizistisch-politischen Ballyhoo, das diese TV-Runde erzeugte, die Ausnahme bleiben. So etwas wird sich nicht wiederholen.
Zum einen liegt es daran, dass Geißler einmalig ist – in seiner ganzen Schläue, seinem Charisma, seinem politischen Witz und seiner in Jahrzehnten angesammelten Streiterfahrung. Zum anderen zeigt sich jetzt, einige Monate nach der allgemeinen Euphorie, nach dem Wahlsieg der Grünen bei den letzen Landtagswahlen, in Stuttgart, dass die Fronten fast verhärteter sind als zuvor. Die Demonstrationen, wenn auch die Presse kaum darüber berichtet, sie gehen weiter. Trotz des grünen Wahlerfolgs. Trotz Geißler.
Heiner Geißler ist ja sehr stolz auf sich, er hat, glaubt er, mit seinem Schlichterspruch Rechtsgeschichte geschrieben, als „Modell künftiger demokratischer Praxis bei Großprojekten“ solle die Schlichtung herhalten. Geißler habe, lobt auch die FAZ, das „Ende der Basta-Zeit verkündet“.
Aber stimmt das? Ist diese Geißler’sche Mediation tatsächlich ein Beispiel für strittige Objekte? Oder nährt sie bloß die Illusion, dass gesellschaftliche Konflikte wie festgefahrene Tarifverhandlungen gelöst werden können? Nein. Diese Schlichterrunde war gefährlich, wie ich am Anfang schrieb: ein Spiel mit dem Feuer.
Warum? Diese Schlichtung verärgert und enttäuscht sehr viele Bürger. Viele Bürger haben das Gefühl, dass das milliardenschwere Bahnprojekt durch diese Schlichterrunde noch teurer wird, dass die Mehrausgaben durch die Schlichterrunde scheinbar legitimiert wurden, da ist das Gefühl, dass sie am runden Tisch zwar angehört wurden, dass sie am Fernsehen auch zuschauen durften, dass sie aber das, was sie wollten und ihnen wichtig war, nicht dürfen: mitbestimmen. Da ist bei vielen Bürgern das Gefühl: Wir wurden über den Tisch gezogen. Das war ein abgekartetes Spiel.
Das schafft, und das ist gefährlich für eine Demokratie, Enttäuschung, Frust. Das Gefühl des Betrogenseins – die nehmen uns nicht ernst, die machen ja doch, was sie wollen.
Gegner gegen Befürworter: Indianer gegen Kavallerie
So darf es sich also künftig nicht abspielen, wenn Demokratie nicht noch mehr an Substanz verlieren soll. Was in Stuttgart ablief, es war – scharf formuliert – eine Parodie auf echte Bürgerbeteiligung.
Zum einen waren die Kräfteverhältnisse zwischen S-21-Gegnern und -Befürwortern überaus ungleich. Wie bei Indianern, die mit Pfeil und Bogen ihr Land gegen die hochgerüstete Kavallerie, ausgestattet mit Winchestergewehren und Kanonen, verteidigten. Da war der milliardenschwere Großkonzern Bahn, da waren all die S-21-Befürworter, Land, Stadt, Bund – Herren über nahezu unendliche Ressourcen, Herren über Gesetze und Administrationen und Herren über Apparate, die wissen, wie man mit den Medien spielt, Herren über Wissen, das sie zurückhielten und nach Lust und Laune einsetzten. Und auf der anderen Seite waren die Gegner.
Ambitionierte Amateure. Bürger, die sich in ihrer Freizeit Fakten angeeignet hatten, die aber routiniert weggelacht wurden, Bürger, die akzeptierten, dass sie zwar manche Gutachten der Bahn einsehen durften (aber nur kurz und unter der strengen Auflage und der Androhung hoher Geldstrafen, darüber nie zu reden), und es dennoch schafften, beim sogenannten Faktencheck zu dokumentieren, dass der geplante Bahnhof schlecht und ineffizient sein würde.
Aber dann war da auch noch der Schlichter Heiner Geißler. Vorgeblich ein neutraler Makler. Der dann am 30. November 2010 seinen „Schlichterspruch“ verkündete und damit die Befunde der Anhörung kaltschnäuzig, aber charmant lächelnd verdrehte: „Ich halte die Entscheidung, S 21 fortzuführen, für richtig“, er plädiere für ein „S 21 plus“ – also für den Tiefbahnhof mit Nachbesserungen, also für noch höhere Kosten.
Zukunftsmodell Schlichtung? Ein Modell voll Hohn: Das angebliche Hochamt der echten Partizipation endet mit der Verkündigung von ein paar Auflagen. Die Bürger, die das ganze Projekt nicht wollen, sorgten mit ihrem Eifer und ihrer fundierten Kritik dafür, dass das aus ihrer Sicht verhasste Objekt optimiert und modernisiert wird. Ein Witz der Geschichte.
Die Stuttgarter Schlichtungsrunde – sie kann für all jene, die sich eine lebendige Demokratie wünschen, kein Modell sein. In Stuttgart ging es nicht darum, den Bürger ernst zu nehmen. Es ging darum, ihn zu befrieden. Ihn zu entmündigen.
Die Stuttgarter Schlichtungsrunde – sie war die Notbremse einer Politik, die am Ende war und sich nicht mehr rechtfertigen konnte. Der klar war, dass sie gegen die Bürger einer Stadt, die regelmäßig und zu Zehntausenden auf die Straßen gingen, ihr Projekt nicht realisieren konnte.
„If you can't convince them, confuse them“, war eine Handlungsmaxime des amerikanischen Präsidenten Harry S. Truman, will sagen: Wenn man der anderen Seite, weil sie die besseren Argumente hat, nicht beikommt, dann muss man sie verwirren – mit Halbwahrheiten, Vermutungen, Gerüchten, unnötigen Details und überflüssigen Informationen. Den Gegner ermüden. Ihn einlullen. Das war auch die Strategie, der Gedanke hinter der Stuttgarter Schlichtungsrunde. Eine zynische Haltung: Der Bürger darf ein bisschen mitmachen, sich wichtig fühlen, aber dann entscheidet man doch so, wie es die Politiker geplant hatten.
Das Problem dieser Politik ist ihr Bürger: Er weiß, Großprojekte bedeuten nicht unbedingt mehr Lebensqualität. Die Bürger fragen nach dem Preis, den sie für die Projekte bezahlen müssen, dem materiellen und dem immateriellen: Warum sollen sie in Stuttgart 10, 15 Jahre lang Krach und Lärm und Dreck, die Zerstörung von 18 denkmalgeschützten Bauten akzeptieren – wofür? Warum? Sie fragen: Ist es vernünftig, für einen minimalen Beschleunigungsschub Milliarden in tiefen Löchern, schwarzen Tunnel zu verbuddeln, während Bildungsetats geschrumpft werden? Lohnt dieser Fortschritt die Amputation einer Innenstadt? Ist diese Ratio noch vernünftig?
Volksbefragung ist Verrat an vielen, die Grün gewählt haben
Aber jetzt dürfen die Bürger und Bürgerinnen über S 21 doch abstimmen, jetzt darf der Souverän wirklich ran. Nein, diese Volksbefragung ist die Fortsetzung der Schlichtungsgespräche mit anderen Mitteln. Für die Grünen, die auf diese Abstimmung setzten, ist sie Flucht aus dem Widerstand gegen S 21. Die Grünen können sagen: Was wollt ihr? Wir haben das Volk befragt. Und doch: Diese Befragung ist Verrat an vielen, die Grün wählten.
Nicht nur, dass das Abstimmungsquorum unerreichbar hoch ist, noch etwas anderes macht diese Volksbefragung zu einem undemokratischen Lehrstück der ganz besonderen Art: Warum, mit Verlaub, sollen alle Baden-Württemberger über S 21 abstimmen, warum bloß? Warum ein Bauer auf der Alm im Allgäu ebenso wie ein Handwerker in Heidenheim?
S 21 ist, das betont auch immer wieder das Bundesverkehrsministerium, ein „städtebauliches Projekt“, es ist also eine Sache der Stuttgarterinnen und Stuttgarter. Oder stimmen etwa die Stuttgarter über, sagen wir mal, ein Turnhallenprojekt in Schwäbisch Hall ab? Über eine Stadtautobahn in Freiburg? Nein, natürlich nicht. So gesehen, wäre es sogar logischer, die Menschen in Paris oder Bratislava votierten über S 21: Sie immerhin sollen ja angeblich Nutznießer dieser internationalen Magistrale durch Stuttgarts feuchten Untergrund sein.
Gleichwohl: Man muss zur Abstimmung. Man muss dieses Recht nutzen. Man muss auch vertrauen, dass die Menschen außerhalb der Landeshauptstadt wissen oder zumindest ahnen, was den Stuttgartern mit S 21 angedreht und angetan werden soll. Auf ein Wunder hofft ja der Ministerpräsident Winfried Kretschmann.
Vielleicht erlebt der Grüne ja sein blaues Wunder am 27. November: Quorum zwar nicht erreicht, aber eine Mehrheit gegen S 21. Was dann?
Wie auch immer die Abstimmung ausgeht: Sinnvoll wird der Milliarden Euro verschwendende Unsinn S 21 nicht. Sinnvoll also bleibt der Widerstand der Stuttgarter Mutbürger.
Die Lehren aus S 21 und aus Schlichtung und Volksabstimmung? Der emanzipierte Bürger muss darauf achten, dass eine politische Scheinbeteiligung ihn nicht wieder sofort entmündigt. Und so legt der Stuttgarter Protest die Finger in die Wunde dieser Demokratie. Schlichtungsgespräche und runde Tische, mehr reden und besser informieren allein genügen nicht, wenn diese Akte erkennbar nur das Ziel haben, Proteste zu befrieden. Aufgeweckte Bürger ruhigzustellen.
Nein, die Politik muss lernen, offen und ehrlich zu agieren, die Bürger wirklich in die Entscheidungen so früh einzubeziehen, dass Beschlüsse tatsächlich verändert werden können, sie muss Abschied nehmen von einer Basta-Politik und dem ständigen Gerede von angeblicher Alternativlosigkeit politischer Entscheidungen – das ist die Erkenntnis, die sich von Stuttgart aus verbreitet.
Durch seine Berichterstattung im „Stern“ hat Arno Luik (56) das Thema S 21 auf die nationale Agenda gesetzt. Im November 2010 hat der gebürtige Königsbronner den „Leuchtturm für besondere publizistische Leistungen“ erhalten. Der Text hier wird auch in dem Buch „Die verstimmte Demokratie“ (Herausgeber: Stephan Braun/Alexander Geißler, VS Verlag) erscheinen, das nächstes Jahr auf den Markt kommen soll. Am 24. November ist Arno Luik Gast in der SWR-Sendung „Leute“, am 30. November nimmt er an einer SWR-Diskussionsrunde mit Stuttgarter Journalisten, unter anderem Rainer Nübel von der Kontext:Wochenzeitung, teil.