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Archiv-Artikel

Ursprung und Wahrheit

Über die Einflüsse muslimischer Legenden in Dantes „Divina Commedia“

VON ILIJA TROJANOW UND RANJIT HOSKOTÉ

Wenn die europäische Literatur eine Stadt wäre, dann wäre Dantes „Divina Commedia“ die Kathedrale. Beim Eintreten blicken wir bewundernd auf die christlichen Fresken an Wänden und Decke. Die Kerzen- und Deckenleuchter, Medaillons und anderen Verzierungen versetzen uns zurück in die römische Vergangenheit. Von den Porträts in den Nischen beobachtet uns eine Versammlung von Zeitgenossen und Vorfahren. Der Dom der Commedia ist atemberaubend hoch und die Struktur mit ihren drei Flügeln beeindruckend.

Ein zeitloses Monument zum geistlichen Ruhm des Christentums, verkündet unser belesener Führer, eine Geschichte darüber, wie die Seele Heilung und Läuterung durch die Reise in die Hölle und den Himmel erfährt. Eine Erzählung, historisch genau und doch allegorisch, vorgetragen von einer Stimme, die zum ersten Mal erklingt, die Stimme des Humanismus, die die Sprache des Alltags verwendet.

Aber nachdem wir alles bewundert haben und angemessen inspiriert und bewegt sind, stehen wir auf der Piazza und betrachten noch einmal die Umrisse des Gebäudes, und plötzlich überkommt uns ein Gefühl des Déjà-vu. Der Bericht über die Odyssee durch die Hölle, das Fegefeuer und das Paradies, war, so ungewohnt er im christlichen Mythos wirkte, zu der Zeit, als er ins Italienische gelangte, nichts Neues.

Ein Mann mit besonderen Gaben wird eines Nachts von einem Engel geweckt und in den Himmel emporgetragen. Der Mann reitet auf einem geflügelten Pferd und steigt neun Kreise hinauf, eine lange Reise, die von verschiedenen Wegstationen unterbrochen wird. In einer anderen Welt von verwirrender Fremdheit begegnet er Propheten und bedeutenden Männern. Über dem neunten Kreis findet er sich schließlich in der Gegenwart Gottes wieder. Aber das war nur ein Teil der Reise. Nach der Begegnung mit dem furchtbaren Engel des Abgrunds steht der Reisende den Kreisen der Verdammten gegenüber, erfährt von den Sünden, die eine solche Bestrafung nach sich zogen, und den Qualen, zu denen sie verdammt sind. Dann trudelt das entsetzliche Inferno davon in die Tiefen ewiger Verdammnis. Der Mann ist der Prophet Mohammed, und diese Geschichte wurde in der muslimischen Welt seit dem 8. Jahrhundert immer wieder als apokryphische, aber sehr eindrucksvolle Schilderung erzählt.

„Al-mir’aj“, („Aufstieg, Himmelsreise“ des Propheten), wie die Erzählung heißt, ist in vielen Variationen bekannt, manche überladen mit Details, andere romanisch nüchtern, und hat die Fantasie vieler osmanischer und safawidischer Maler angeregt (interessanterweise stellen die meisten noch vorhandenen Abbildungen den Propheten bei der mir’aj dar).

Als die Vision mit den vielen Himmeln und Höllen den Mittelmeerraum erreichte, war sie bereits ein üppiger Teppich, in dem zahlreiche Einflüsse miteinander verwoben waren. Der eigentliche Ursprung liegt wahrscheinlich in den Mandalas des Hinduismus und später Buddhismus mit ihren bunten Darstellungen von Himmel und Hölle, die durch die von den Barmakiden in Bagdad geförderten Übersetzungen in die islamische Kultur gelangten. Die Volkserzählung inspirierte die bedeutenden Sufimystiker Ibn al-Arabi und al-Ma’ari zu ihren Visionen.

Ibn al-Arabi (1165–1240), der aus dem südspanischen Murcia stammte, erkundete in den zwölf Bänden seines Hauptwerks, „Die mekkanischen Offenbarungen“, einen revolutionären Weg zum Göttlichen. „Die infernalischen Regionen, der astronomische Himmel, die Kreise der mystischen Rose, die Chöre der Engel um das Zentrum göttlichen Lichts, die drei Kreise, die die Dreifaltigkeit symbolisieren, sie alle werden von Dante genauso beschrieben, wie Ibn al-Arabi sie beschrieb“, erläutert R. A. Nicholson. Dem sei noch hinzugefügt, dass Ibn al-Arabi ebenfalls eine Beatrice hatte: Nizzam, die schöne und vollkommene Tochter von Makinu’ddin. Kurz gesagt, die weitreichenden Parallelen lassen nur eine Schlussfolgerung zu: Die religiösen Legenden der Muslime müssen in den Allgemeinbestand der literarischen Kultur eingegangen sein, der den hellsten Köpfen im Europa des 13. Jahrhunderts zugänglich war.

Die Ähnlichkeiten sind damit noch nicht erschöpft. Wir finden zahlreiche weitere, wenn wir die Architektur von Himmel und Hölle in der Mir’aj und der Commedia vergleichen, die Dante 1308 begann und kurz vor seinem Tod 1321 fertigstellte. Beide Texte beschwören Bilder des Lichts herauf, Kreissymbole und das Wechselspiel von Blindheit und Offenbarung. Der Prophet spürt, wie sich sein Augenlicht verdunkelt, und fürchtet, dass ihn das Licht, das ihn bei jedem neuen Abschnitt seines himmlischen Aufstiegs überwältigt, blenden wird. Doch dann erkennt er genau wie Dante in der Commedia, dass seine Augen auf diesen außergewöhnlichen Anblick vorbereitet wurden. Gabriel nimmt ihn als Führer, Tröster und Fürsprecher bei Gott an der Hand und bietet ihm theologische Erklärungen, so wie Vergil bei Dante. Der Prophet erfreut sich an den Chören und himmlischen Harmonien, die ihn empfangen, und staunt wie Dante über die Engel, die in aufsteigenden konzentrischen Kreisen den Thron Gottes umgeben. Entsetzen befällt ihn bei der Begegnung mit dem Engel des Abgrunds und beim Anblick der ewigen Verdammnis, die sich ihm beim Abstieg in die Hölle offenbart.

Wie später auch Dante erklärt sich der Prophet außerstande, seine Erfahrung zu beschreiben, und bezeichnet sie als „unaussprechliche Anspannung der Seele“, die nur mittels einer traumähnlichen Allegorie vermittelbar sei. Besonders bei den Höllenstrafen sind die Ähnlichkeiten offensichtlich: der mächtige Feuerorkan, durch den die Ehebrecher getrieben werden, der Feuerregen auf die Sodomiten, der sie zwingt, im Kreis zu gehen, das Leiden der Wahrsager, deren Köpfe nach hinten verdreht wurden, die Schismatiker, die erdolcht werden, ohne je zu sterben, die Riesen, die mit der gleichen Präzision beschrieben werden, die Vision von Luzifer, der genau wie der islamische Iblis in Eis gefangen ist, die Säuberung der beiden Flüsse des irdischen Paradieses und so weiter und so fort.

Wenn man diese Analogien im Aufbau, Topografie und Szenerie zusammenfasst, so wird klar, dass eine einzige religiöse Literatur, die islamische, in einem ihrer Themen, dem von den letzten Dingen, dem Forscher reichere Ernte von Ideen, Bildern und Symbolen und Beschreibungen, die denen Dantes merkwürdig gleichen, in die Hand gibt als alle religiösen Literaturen zusammengenommen, die bis jetzt von den Danteforschern zur Erklärung der Entstehung der Divina Commedia zu Rate gezogen worden sind.

Aber wie kam Dante auf die islamische Legende? Eine Version der Mir’aj war als Anhang zur Historia Arabum (1256) erschienen, der ersten Geschichte der arabischen Welt auf Latein, verfasst vom Erzbischof von Toledo, Rodrigo Jiménez de Rada, fünf Jahre vor Dantes Geburt und vier Jahre bevor Dantes Lehrer und anerkannter Meister Brunetto Latini (1220–1294) als Gesandter der florentinischen Republik an den Hof Alfons X. von Kastilien und León, bekannt als „der Weise“, nach Toledo kam. Wir können uns gut den Eindruck vorstellen, den die spanischarabische Stadt auf Latini machte – schließlich galt Toledo damals als Zentrum der Gelehrtheit, wo es ganz normal war, antikgriechische, christliche und muslimische Elemente der Literatur, Wissenschaft oder Philosophie miteinander zu verknüpfen.

Latini war nicht nur Notar und Diplomat, sondern auch ein Autor, der eines der ersten volkssprachlichen Rhetorikhandbücher verfasste, und für Dantes Generation der politisch aktiven, wissbegierigen und geistig regen Florentiner ein wichtiger Mentor. 1264 übertrug die Übersetzerschule von Toledo eine Version der Mir’aj ins Lateinische.

Diese Arbeit, die eine Synthese des islamischen Mystizismus und des Neuplatonismus darstellte, erschien bald auf Französisch und als „Libro della Scala“, „Das Buch der Leiter“, auf Italienisch und fand so ihren Weg in die Bibliotheken der kultivierten italienischen Gelehrten. Tatsächlich war der islamische Einfluss so stark, dass der Beweis, Dante habe die Mir’aj nicht gekannt, weitaus schwieriger wäre. Alle Dante-Forscher heben seine universale Neugierde hervor, eine der wesentlichen Eigenschaften des Renaissancemenschen. In seinen anderen Schriften bezieht sich Dante oft auf die arabischen Astronomen Albumazar, Alfraganius und Alpetragius sowie die Philosophen Alpharabius, Algazel, Avicenna und Ibn Rushd. Die Diskussion über Glaube und Vernunft unter den drei Letztgenannten war die Grundlage, auf der Pierre Abaelard, Roger Bacon und Siger von Brabant den scholastischen Averroismus errichteten, mit dem Dante vertraut war (mehrere Beteiligte, Muslime wie Christen, treten in seiner Commedia auf). Doch Dante räumt an keiner Stelle ein, dass es Vorläufer der Commedia gab. Sein Schweigen zeuge, wie ein italienischer Autor scharfblickend schreibt, von literarischen und religiösen Befürchtungen: „Man sieht, dass Dante seine problematischen Vorläufer schweigend übergeht: Giacomino da Verona, der, obwohl ein mittelmäßiger Dichter, doch die Idee hatte, das christliche Jenseits zu beschreiben, und daher einen Schatten auf Dantes Ruhm warf; die arabischen Dichter, die er durch Brunetto Latini kennengelernt hatte, hatten ein profundes Wissen, das er aus verschiedenen Gründen sorgfältig verschleierte (christliche Dichtung, inspiriert von den Paradiesvisionen muslimischer Dichter).

Platon hatte in Phaidros gesagt, dass der Anblick und die Beschreibung des Himmlischen die Kräfte des Menschen übersteige. Diese Erklärung trifft jedoch nicht auf Dante zu, dem dies als Einzigem erfolgreich gelang. Und aus diesem Grund begegnet er im Paradies keinem anderen Dichter, egal ob zeitgenössisch oder klassisch. Er steht allein, der unbesiegte Günstling des Kaisers. Offenbar hatte Dante das Gefühl, er wäre nicht mehr der Urheber, wenn er sich vor seinen Vorbildern verneigt hätte, sondern nur noch ein wenn auch genialer Bearbeiter.

Diese Einstellung hält sich in Europa bis heute, man ist förmlich besessen von der originären Herkunft, als ob äußere Einflüsse die eigene Identität beschmutzen und herabsetzen würden. Dabei ist genau das Gegenteil der Fall. Die Leistung eines literarischen Genies wie Dante besteht darin, dass er aufnahmefähig für bereits vorhandene Ideen war und die Energie und Vision hatte, im Geiste des Zusammenflusses ein individuelles Meisterwerk zu schaffen. Leider wurde es unter den Autoren der Theologie, Literatur und Wissenschaft bald üblich, muslimische Vorläufer zu leugnen und zu löschen.

ILIJA TROJANOW, 1965 in Sofia geboren, ist Schriftsteller und Autor der taz-Meinungsseiten. RANJIT HOSKOTÉ, 1969 in Bombay geboren, ist Dichter und Kunstkritiker. Der Text dieser Seite stammt aus ihrem Buch „Kampfabsage – Kulturen bekämpfen sich nicht, sie fließen zusammen“, das gerade erschienen ist (Karl Blessing Verlag, München, 200 Seiten, 17,95 Euro)