: Versuchung Facebook
KOMMUNE Die taz hat mehr Facebook-Follower als Abonnenten. Was heißt es für den Onlinejournalismus, wenn viele Leser über das soziale Netzwerk zur Zeitung finden?
VON JOHANNES LOHMAIER
„Selbstbestimmung wird wohl nicht mehr großgeschrieben. Der Staat regiert jetzt auch schon im Kinderzimmer. Bravo“, schreibt Facebook-User Carsten Hobracht. Ein zynischer Kommentar zu einem der vielen taz-Texte zum Thema Masern-Impfung, die in den vergangenen Tagen erschienen sind. Einer von vielen, in denen Besucher der Facebook-Seite der taz ihrem Ärger über die Berichterstattung der Zeitung Luft machen. So wie auch Birgit Weidmann. „Habt ihr schon mal den Aktienverlauf der Pharmaindustrie seit dieser Kampagne beobachtet? Na? Dämmert’s?“, kommentiert sie.
Aber nicht nur die Masern-Impfung oder Pegida sorgen hier auf der Facebook-Seite der taz, die die taz wie alle ihre Community-Aktivitäten liebevoll „taz.kommune“ nennt, für hitzige Debatten. Offline ist vom Kampf der Meinungen wenig zu spüren. Petra Dorn und Kaspar Zucker, die beiden Social-Media-Redakteure sitzen an ihren Schreibtischen im zweiten Stock der taz und moderieren die Gespräche auf Facebook und taz.de. Um sie herum befüllen taz.de-Redakteure die taz-Webpage, zwei Zimmer weiter werden die Auslandsseiten produziert. Petra blickt auf ihre beiden Bildschirme, wo sich die langwierigen Diskussionen ausbreiten. Erst ein andauerndes Kratzen vom Drehen am Rad ihrer Computermaus, dann wieder ein Klicken. Dieser Takt bestimmt den Rhythmus der Social-Media-Redakteurin. Gerade verfolgt sie eine Debatte über den Mord an Boris Nemzow. Wenn das Kratzen verstummt, reagiert Petra. Mal mit einem Schmunzeln, manchmal auch mit einem wütenden Ausruf. Humorvolle Kommentare, ernste Kommentare, wertvolle Hinweise, völlig sinnlose Sätze – all diese Leserreaktionen fliegen über ihren Bildschirm. Nicht nur taz.de, auch Facebook ist immer häufiger Arena für ausufernde Debatten von taz-Texten. Manchmal gehen Meinungsäußerungen auch zu weit. Dann müssen Petra und Kasper eingreifen und Kommentare löschen. „Es wurde sogar schon zum Mord an einer Person aufgerufen“, sagt Petra. 152.000 NutzerInnen haben den „Gefällt mir“-Knopf gedrückt und verfolgen die Posts der taz auf Facebook. Die Printzeitung hat weit weniger Abonnenten. Aus den Texten, die in der taz erscheinen, wählen Petra und Kaspar aus und posten sie auf Facebook. Was sich häufig massiv auf die Klickzahlen dieser Texte auswirkt. Und der Einfluss des sozialen Netzwerks für die taz wächst: Von den taz.de-Besuchern kommen zwischen 12 und 14 Prozent über Facebook. Das sei ein geringerer Anteil als bei anderen News-Seiten, sagt Daniél Kretschmar, Onlinechef der taz. Und doch geht der Trend weg davon, dass die Leser direkt über taz.de oder Suchmaschinen den Weg zu Texten finden.
Für die taz wirft das Fragen auf. Macht man sich nicht ein Stück weit abhängig von Facebook? Wenn es in der Zeitung eine Tradition gibt, dann die der publizistischen Unabhängigkeit. Mit der Genossenschaft im Rücken ist die Abhängigkeit von Werbekunden hier weniger groß als bei anderen Printmedien. Die Zeitung versucht, sich weniger davon treiben zu lassen, was den Google-Algorithmen schmeichelt. Wie passt da, dass mehr als jeder zehnte Leser über Facebook zu taz-Texten findet?
„Etwa alle eineinhalb bis zwei Stunden folgt ein neuer Post“, sagt Kaspar. Jetzt möchte er einen Artikel über eine transsexuelle Bosnierin, der Asyl in Deutschland verweigert wird, posten. Ein wichtiges Thema, für das die passende Anmoderation auf Facebook gefunden werden muss. Gemeinsam mit Petra und der Autorin tauscht er Ideen aus. Ein Zitat als Überschrift? Oder besser eine sachliche Information? Dann landet der Post auf Facebook. Nach welchen Kriterien Facebook diese Posts dann im Newsfeed taz-Fans anzeigt, ist unklar – denn wie der Facebook-Algorithmus, der das organisiert, genau funktioniert, ist nicht im Detail bekannt.
Angeblich 150.000 Kriterien sollen Facebooks Algorithmus beeinflussen. Besonders häufig posten? Bestimmte Wörter verwenden? Es gibt diverse Stellschrauben, an denen auch eine Redaktion drehen könnte, um den Algorithmus zu bezirzen. Wie genau das aussehen könnte, dafür geben die sozialen Netzwerke selbst Seitenbetreibern sogar Tipps. Eine andere Möglichkeit: Facebook dafür bezahlen, eigene Inhalte zu bevorzugen. Darauf hat die taz bislang verzichtet. Petra und Kaspar geben sich ohnehin zurückhaltend, wenn es darum geht, sich von Facebook die Regeln diktieren zu lassen. „Das widerspricht völlig unserer Philosophie“, sagt Petra. Ziel ist es, dass jeder Post die Arbeit der taz-Redaktion widerspiegelt. Nackte Brüste und Katzenbabys sind kein Argument für einen Facebook-Post. Genauso wenig wollen die beiden mit boulevardesken Überschriften wie „Das haben Sie ja noch nie gesehen“ auf ihre Posts aufmerksam machen. „Auch auf Facebook braucht es richtigen Journalismus“, findet Petra. Sonst klicken die User zwar auf den Link, verlassen die Seite aber enttäuscht.
Mitspielen oder auf Klicks verzichten? Facebook ist für Onlineredaktionen ein zweischneidiges Schwert. Auch die taz kommt um Facebook nicht herum. Obwohl es schon immer in Redaktion und Genossenschaft Diskussionen über die taz.kommune auf Facebook gab, wie Kaspar sich erinnert. „Realität ist, dass Leute sich da aufhalten. Da kann man nicht nicht drauf reagieren“, sagt Daniél. Auch die taz muss zwischen ihrer Unabhängigkeit und der Bedeutung von Facebook für die Reichweite verhandeln.