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Archiv-Artikel

Schwebende Gemeinschaften

UNTERGRUND In „Floating City“ erzählt der Soziologe Sudhir Venkatesh von seinen Ermittlungen unter New Yorker Dealern und Prostituierten

VON TIM CASPAR BOEHME

Sudhir Venkatesh ist Soziologieprofessor an der Columbia University. Er hat sich als Experte für die „Untergrundökonomien“ von Großstädten hervorgetan, zu seinen Spezialgebieten zählen Drogenhandel und Prostitution. Venkatesh hat mehrere Studien zum Thema veröffentlicht, 2008 erschien sein erstes Buch in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Underground Economy. Was Gangs und Unternehmen gemeinsam haben“. Darin berichtet er von den Lebensbedingungen in einem Viertel Chicagos, in dem 90 Prozent der Bevölkerung von Sozialhilfe leben.

In seinem jüngstem Buch, „Floating City“, erinnert sich Venkatesh an seine Feldforschungen in der „globalisierten Stadt“ New York. Es ist eine Art „Making-of“ früherer wissenschaftlicher Arbeiten, für das er sich neben seinen Forschungsnotizen auf Tagebucheintragungen und Erinnerungen stützt. Wie Venkatesh zur Absicherung betont, sei es „nicht für eine akademische Veröffentlichung geeignet“. Das bringt einige Vorteile mit sich. Unter anderem den, dass Venkatesh, der im Unterschied zu vielen seiner Kollegen elegant schreiben kann, nicht nur ein spannendes Thema mit Einblicken aus erster Hand präsentiert, sondern auch so spannend erzählt, als handle es sich bei „Floating City“ um einen Roman.

Venkateshs These zur „schwebenden Stadt“ New York lautet: Anders als das statische, streng segregierte Chicago, ermögliche das dynamische New York immer wieder neue, unsichtbare Beziehungen zwischen üblicherweise getrennten sozialen Gruppen.

So trifft in seinen Berichten ein Crackdealer aus Harlem während einer Vernissage auf eine Angehörige des uramerikanischen Geldadels, die eine karitative Stiftung leitet. Venkatesh gegenüber offenbart sie später allerdings – zu dessen großem Erstaunen –, dass sie heimlich als Zuhälterin einige Escorts aus ihrem Bekanntenkreis „managt“: „Verbrechen macht Spaß“, lautet die Begründung für ihren ungewöhnlichen Nebenberuf.

Entscheidend für diese Offenheit, die Venkatesh entgegengebracht wird, ist sein Zugang, der Türöffner, eine Person aus dem Milieu, deren Vertrauen er gewinnt. Das kann – beim Ermitteln in den Stripteasebars im Viertel Hell’s Kitchen – ein älterer Herr mit Einstecktuch und Krawatte sein, der regelmäßig seiner Leidenschaft für „die Damen“ nachgeht. Oder der Drogendealer Shine, der sich zufällig als Stammgast in Venkateshs Nachbarschaftskneipe in Harlem herausstellt.

Von Shine erfährt Venkatesh zudem, dass die Gemeinschaften im Untergrund „schwebende Gemeinschaften“ und als solche unbeständig, wenn auch nicht beliebig sind. Vorübergehend wird Venkatesh selbst Teil dieser Gemeinschaften und muss in einem Pornoladen schon mal kurz hinter der Kasse aushelfen oder Filme einsortieren.

Als Lohn für seine Anpassungsfähigkeit darf er mit Frauen vom Straßenstrich sprechen. Manche nehmen ihn sogar mit auf einen Rundgang durch ihr Viertel, zeigen ihm Ärzte, die sie unter der Hand behandeln, oder Friseure, bei denen es Rabatt für Prostituierte gibt. Im anekdotenhaften Stil Venkateshs schwingt dabei oft ein gerüttelt Maß an Stolz mit, es als Angehöriger der akademischen Oberschicht geschafft zu haben, von seinen „Studienobjekten“ so weit akzeptiert zu werden, dass sie bereit waren, ihm nicht nur von ihrer Welt zu erzählen, sondern sie ihm auch – in Ausschnitten zumindest – zu zeigen.

Dass Venkatesh die Grenzen seiner eigenen Disziplin mit dieser Vorgehensweise weitgehend hinter sich lässt, reflektiert er ebenfalls. Statt eine statistische Analyse vorzunehmen, deren Ergebnisse er als repräsentativ für die gesamte Gesellschaftsgruppe verallgemeinert, beschränkt er sich bewusst auf das Material, das er an Ort und Stelle sammeln kann – den Alltag der Gemeinschaften, zu denen er Zugang erhalten hat.

In diesem Sinne ist das Buch am ehesten eine literarisch geglückte Sozialreportage, die gerade durch die Bereitschaft Venkateshs, sich die „fremde“ Welt der Schattenwirtschaft aus nächster Nähe anzusehen, besonders fasziniert.

Sudhir Venkatesh: „Floating City“. Aus dem Amerikanischen von Jürgen Neubauer. Murmann, Hamburg 2015, 310 S., 22 Euro