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Archiv-Artikel

Fast versiegelt wirken die Hochhaussiedlungen

POSTSOWJETISCHE VERWERFUNGEN Auf Methadon in Sankt Petersburg: Ivette Löckers Dokumentarfilm „Wenn es blendet, öffne die Augen“

Ein Generationenporträt hatte Ivette Löcker ursprünglich drehen wollen, einen Film über die Überlebenden der wilden russischen Neunziger, über das Erbe der Jelzinzeit. Geblieben sind von diesem Ansatz vor allem zwei kurze Aufnahmen eines (eindrücklichen) Auftritts der Punkband Last Tanks in Paris. Ansonsten ist „Wenn es blendet, öffne die Augen“ kleinformatiger – auf den ersten Blick. Löcker konzentriert sich ganz auf zwei weitgehend isolierte Überlebende, auf Schanna und Ljoscha, beide seit vielen Jahren heroinsüchtig (inzwischen auf Methadon), beide sichtlich gezeichnet von einem exzessiven Lebensstil, von den Verwerfungen ihrer Biografien, in denen sich natürlich auch politische und sozialen Brüche spiegeln – aber sind Schanna und Ljoscha deswegen in einem emphatischen Sinne Teil einer Generation? Fast im Gegenteil scheint es in dem Film mindestens auch um den Verlust einer derartigen Dimension gemeinschaftlicher Erfahrung zu gehen, zum Beispiel, wenn die Kamera Ljoscha auf seinen Autofahrten durch die wie versiegelt wirkenden Hochhaussiedlungen von Sankt Petersburg begleitet.

Heute leben die beiden zurückgezogen in einer dieser Siedlungen, gemeinsam mit Ljoschas alter, aber nach wie vor berufstätiger Mutter. Die Härten eines von Drogensucht und HIV-Infektion geprägten Lebens brechen sich an familiärer Häuslichkeit, auch an der räumlichen Enge der winzigen Wohnung, in der die drei sich ein Leben eingerichtet haben, das auf einen äußerst unsicheren, aber gleichzeitig klar umgrenzten Zukunftshorizont ausgerichtet ist: Der Alltag werde durch HIV weniger verändert als beschleunigt, meint Schanna einmal, ein Entzug lohne sich schon deshalb nicht. Allzu lange werden beide vermutlich nicht mehr zu leben haben, wie über alles andere sprechen sie, die beide gerade einmal in ihren Dreißigern sind, auch über den eigenen Tod völlig offen.

Die Vergangenheit wiederum dringt nur punktuell in den Film ein, über stolz vorgezeigte Fotoalben und über Anekdoten, die die präzise eingefangene Beziehungsdynamik zwischen Ljoscha und Schanna verkomplizieren: Heute scheint er besser als sie mit der Sucht und auch allgemein mit dem Leben klarzukommen, er jobbt als Sozialarbeiter, während sie zu Hause auf ihn und die Droge wartet; früher allerdings musste sie für ihn anschaffen gehen. Gelegentlich blickt der Film noch weiter zurück: War nicht, wird einmal Ljoschas Mutter gefragt, der die neue Freiheit grundsätzlich suspekt ist, der Wodka das Heroin der Sowjetjahre?

Wie schon in ihrem schönen Vorgängerfilm „Nachtschichten“ verwechselt Löcker den genauen, geduldigen dokumentarischen Blick nicht mit kalter, pseudoobjektiver Neutralität. Ihr Kino bleibt seinen Protagonisten stets empathisch zugewandt und hat gerade darin ein Gespür dafür, wie sich Intimität artikuliert, in Gesprächen, noch mehr vielleicht in Blicken und Körpersprache: Neben vielem anderen zeigt „Wenn es blendet, öffne die Augen“ auch, dass es tausend Möglichkeiten gibt, wie man sich einander am Küchentisch gegenübersitzen kann. LUKAS FOERSTER

■ „Wenn es blendet, öffne die Augen“. Regie: Ivette Löcker. Dokumentarfilm, Österreich 2014, 75 Min., Kino Krokodil