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Archiv-Artikel

die taz vor 18 jahren über deutschland, einig vaterland, und den anfang vom ende der ddr-revolution

Sind die glücklichen Tage des Frühlings im Herbst schon vorbei? Die Millionenkundgebung am Alexanderplatz, die Montagsdemonstrationen in Leipzig, der massenhafte Aufbruch zum aufrechten Gang bis in die letzten Kleinstädte hinein, der aggressive Witz der Friedfertigen – all das ließ, zum ersten Mal, an eine DDR-Identität glauben. Es war die Identität einer revolutionären Bewegung, einer Demokratisierung von unten. Dies gilt auch noch heute. Aber diese Erfahrung läßt sich nicht beschwören, nicht als Bastion verteidigen. Die Massen werden wütender. Hunderttausende skandierten die Zeilen der nicht gesungenen DDR-Nationalhymne: „Deutschland, einig Vaterland“. Und: Die Massen haben die geöffnete Mauer nicht als ihren Sieg, sondern als die Berührung mit dem kapitalistischen Überfluß erlebt. Man kann sich das Ku’damm-Erlebnis gar nicht revolutionierend genug vorstellen. Es ist nicht die Fixierung auf Bananen und Transistorradios. Es ist die Entwertung eines ganzen Lebens, eines zähen Kampfes um den vergleichbaren Wohlstand, die Entwertung aller Beziehungen, Tauschideen und Schlangen, mit denen die Leute ihr Leben bezahlen mußten. Wohlgemerkt: Das „Deutschland, einig Vaterland“ in Leipzig ist keine nationalistische Parole. Es waren auch dieselben Leipziger, die anschließend in einer Schweigeminute ihre Solidarität mit den Tschechen bezeugten. Sie ist nicht einmal eine Wiedervereinigungsparole. Sie drückt zunächst einmal dies aus: radikaler Wandel, und zwar jetzt. Redner in Leipzig forderten die Wiedervereinigung vor allem und ausschließlich, weil für sie der Realsozialismus zusammengebrochen ist. Weil sie ihr Leben nicht mehr für eine vage Reformzukunft opfern wollen. Weil für sie die Verantwortlichen der Krise nun auch noch den Idealismus zur Krisenbewältigung einfordern. Man muß sich fragen, ob das Kabinett Modrow je in der Lage sein kann, die Massen auch nur für die ersten Reformschritte zu begeistern.

Klaus Hartung, taz 23. 11. 1989