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Archiv-Artikel

Viel zu viele Tränen im Ozean

Literatur zum Stalinismus, verfasst von angeblichen Verrätern und Renegaten, ist meist vergriffen: Ihre Lektüre lohnt noch immer

Arthur Koestler war seit 1931 KP-Mitglied und in den Dreißigerjahren Mitarbeiter des „linken Pressezars“ Willi Münzenberg. Die Schauprozesse machten ihn zum Dissidenten. „Sonnenfinsternis“, geschrieben 1940, ist noch immer das Schlüsselwerk über die Moskauer Prozesse und den Terror der Dialektik. Die Wand, die Ankläger und Beschuldigte trennte, war nur millimeterdünn. Wer verstehen will, warum lebenskluge Bolschewisten wie Nikolai Bucharin die bizarrsten Verbrechen gestanden und andere noch vor der Exekution „Lange lebe Stalin“ riefen, kommt an „Sonnenfinsternis“ nicht vorbei.

Arthur Koestler: „Sonnenfinsternis“. Nur noch antiquarisch erhältlich, zuletzt aufgelegt im Europa Verlag, Hamburg/Wien, 2000

Wie Koestler, allerdings mit anderen Absichten, entfaltet der französische Philosoph Maurice Merleau-Ponty in seinem Buch „Humanismus und Terror“ die Binnenlogik der Moskauer Prozesse und erforscht die Unausweichlichkeit des Terrors. Selten ist die kommunistische Tragödie kühler und genauer beschrieben worden – im Jahre 1947. In gewisser Weise ist seine Schrift die theoretische Entsprechung zu Brechts „Maßnahme“.

Maurice Merleau-Ponty: „Humanismus und Terror“. Nur noch antiquarisch erhältlich

Michael Rohrwassers „Der Stalinismus und die Renegaten“ ist das Standwerk über die Auseinandersetzungen zwischen Exkommunisten und Kommunisten in den Dreißigerjahren – und beschreibt, wie die Renegaten vom Glauben abfielen. Lesenswert, materialreich und klug.

Michael Rohrwasser: „Der Stalinismus und die Renegaten“. Metzler Studienausgabe, Stuttgart 1991, nur noch antiquarisch erhältlich

Lion Feuchtwangers „Moskau 1937. Ein Reisebericht für meine Freunde“ wurde zuerst 1937 in Amsterdam veröffentlicht. Der Berliner Aufbau-Verlag brachte den Text 1993 erneut heraus, versehen mit einem Nachwort von Josef Pischel. Diese Ausgabe ist vergriffen.

Der Originaltext ist aber im Internet auf der Wikipedia-Seite zu Feuchtwanger als PDF-Datei abrufbar

Anna Larina Bucharinas Buch „Nun bin ich schon weit über 20“ ist die Biografie der Witwe von Nikolai Bucharin, der einst „Liebling der Partei“ war und 1938 als Verräter erschossen wurde. Bucharina beschreibt sehr genau und in fast literarisch erzählendem Stil die Verhältnisse im Kreml der Dreißigerjahre und wie die Angst in langsam wachsenden Dosen schließlich das ganze Leben bestimmte. Eines der wichtigsten Bücher über die Zeit – und das am meisten unterschätzte. Steidl hat es 2003 neu aufgelegt.

Anna Larina Bucharina: „Nun bin ich schon weit über 20“. Steidl-Verlag, Göttingen 1991

Die beiden jüngeren Historiker Jörg Baberowski und Anselm Doering-Manteuffel begeben sich auf ein Gelände, das seit dem Historikerstreit 1986 und Ernst Noltes Thesen stark vermint ist: Sie analysieren die Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen Stalinismus und Nationalsozialismus. Exzellent durchdacht!

Jörg Baberowski, Anselm Doering-Manteuffel: „Ordnung durch Terror. Gewaltexzess und Vernichtung im nationalsozialistischen und stalinistischen Imperium“. Dietz Verlag, Bonn 2007

Martin Amis’ Buch „Koba der Schreckliche. Die zwanzig Millionen und das Gelächter“ ist eine mit Verve geschriebene Polemik gegen das Vergessen des stalinistischen Terrors. Das Material, das der britische Schriftsteller verwendet, ist nicht neu, sein wesentliches Argument ebenso wenig. Ein Buch für Einsteiger ins Thema, die historische Bücher mit Unterhaltungswert schätzen.

Martin Amis: „Koba der Schreckliche“. Hanser Verlag, München 2007

Manès Sperbers Trilogie „Wie eine Träne im Ozean“, erschienen Anfang bis Mitte der Fünfzigerjahre, ist die große Erzählung von der Tragödie der sozialistischen Bewegung, ihres Ertrinkens in Gewalt – berichtet aus den Kämpfen gegen den Nationalsozialismus, auf dem Balkan, in Frankreich oder anderen Ecken des Widerstands. Eine auch literarisch bewegende Lektüre. Sperber war einst selbst Kommunist – hier rechnet er quälend ab.

Manès Sperber: „Wie eine Träne im Ozean“. dtv, München 2000

George Orwell, Schriftsteller, aber vor allem Journalist, ist als Autor von „1984“ gemeinhin als Kritiker jeglichen Überwachungsstaats bekannt. Wichtiger von ihm aber ist sein Bericht über das Wüten der Stalinisten im Spanischen Bürgerkrieg der Dreißigerjahre: „Mein Katalonien“ – neben seinem ebenso parabelhaft auf den Kommunismus zu lesenden Roman „Farm der Tiere“. Eine Lektüre, die jeder Romantisierung jener Jahre einen Riegel vorschiebt.

George Orwell: „Mein Katalonien“. Diogenes Taschenbuch, Zürich 2003

Neben Alexander Solschenizyns „Archipel Gulag“ – von den meisten Linken der Siebzigerjahre scharf abgelehnt, der Autor gebannt, weil er (zutreffend) als Antikommunist galt – ist zum sowjetischen Strafkoloniesystem das Buch des polnischen Fotografen Tomasz Kizny empfehlenswert. In den Achtzigerjahren hat er die neuen Gefangenen des sowjetischen Knastsystems aufgenommen: eine Würdigung gegen die Zeit damals noch.

Tomasz Kizny: „Gulag“. Hamburger Edition, Hamburg 2004; Alexander Solschenizyn: „Archipel Gulag“. Nur noch antiquarisch erhältlich SR, JAF