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Archiv-Artikel

Jedes Wort schwebt

Oskar Pastior war ein genialer Klangtüftler. Ein Hörbuch mit Original-Aufnahmen rekonstruiert eine Lesung, die sein Tod 2006 verhinderte

„Das Ohr ist klüger als das Gedicht“, schrieb Oskar Pastior einmal. Wer hört, wie er seine Texte in seinem singenden, siebenbürgisch gefärbten Deutsch vorträgt, versteht sofort, was er damit meinte. Im Herbst 2006 hätte der Lyriker den Büchner-Preis erhalten. Für den Vorabend der Verleihung bereitete er eine Lesung vor, die einen Querschnitt durch sein Werk geben sollte, gewissermaßen ein Selbstporträt in Texten. Sie fand nicht statt. Denn Pastior starb wenige Tage vor der Preisverleihung.

Ausgehend von seinem minutiösen Manuskript hat der Literaturwissenschaftler Klaus Ramm, Freund und Verleger des Autors, Originalton-Aufnahmen der vorgesehenen Gedichte ausfindig gemacht. In dieser Montage erlebt man, wie Pastior, der 1927 in Hermannstadt im heutigen Rumänien geboren und mit der Mundart der deutschsprachigen Minderheit aufgewachsen war, seine unzähligen lyrischen Sprechweisen inszenierte. Zunächst führt er mit nachdenklichem Humor durch seine frühen Gedichte. Hier disputieren die Zutaten eines Topfenstrudels über Krieg und Frieden, seufzt ein lyrisches Ich über die Enge des Denkens, rumpeln lautmalerische Assoziationsketten. Überall klingt die Vielsprachigkeit an, vor allem in den Gedichten des „Krimgotischen Fächers“. So nannte er das Sprachenreservoir, aus dem er seine Klangfiguren schöpfte. Seine Eltern sprachen ein archaisches Neuhochdeutsch, seine Umgebung Rumänisch, und als 17-Jähriger lernte er im sowjetischen Arbeitslager zwangsläufig die Grundlagen des Russischen und Ungarischen.

Zwischen den sechs Textblöcken erzählt Klaus Ramm angenehm undidaktisch von Pastiors Arbeitsweise. Er verzichtet auf Einzelinterpretationen; Sinnzuordnungen waren dem Lyriker ohnehin suspekt. „Ja und nein sind mir gleichermaßen verdächtig“, so Pastior. Er wehrte sich gegen den „Realismusterror“ (Ramm): es gehe beim Dichten darum, ein „Sensorium für das Relationale zu entwickeln“. Relational ist hier alles. Jedes Wort schwebt, jede Bedeutungen kippelt, denn Pastior war ein Klangtüftler, ein Sinnverschieber. Die Bedeutungsebenen seiner Gedichte erschließen sich nicht beim ersten Hören. Aber diese Lesemontage demonstriert die Prozesshaftigkeit in Pastiors Sprache. Oft wandert ein Wort, manchmal auch nur ein Phonem durch die Zeilen, transformiert sich, schlägt sich anderswo nieder. Das klingt manchmal nach Dada, etwa wenn Pastior seine Laut- und Listengedichte beschwört wie Merseburger Zaubersprüche. Die Vertrautheit mit dem Mikrofon hört man: Bevor er 1968 aus Rumänien in die Bundesrepublik floh, arbeitete er als Redakteur bei einem Rundfunksender in Bukarest. Mal spricht er agil und spielerisch, als würde er das Sprachmaterial nur ausprobieren. Dann lauscht er den Worten nach, lauert Bedeutungen auf und zerbröselt sie aus dem Hinterhalt. „Mein Schlafrock ist nur eine Metapher / doch in ihm zehre ich von ihr“, heißt es in einem Gedicht über die Zeit, das er freundlich gedehnt liest wie das lang erwartete Happy End eines Märchens. Sprachstrukturen und die damit verbundenen Denkweisen sind ein Dauerthema bei Pastior: Er löst das gewohnte Satzgefüge mit seiner Subjekt-Objekt-Struktur auf, zerlegt sie in ihre Bausteine. Kaum glaubt man, etwas verstanden zu haben, entzieht sich die Erkenntnis wieder.

Als „Sprachartist“ wollte Pastior allerdings nicht bezeichnet werden: „Mein Ernst ist wohl sehr kindlich, ähnlich dem Spiel gebrannter Kinder.“ Dieser Ernst schimmert stets durch, auch wenn Pastiors Suche nach Sprachschlupflöchern oft sehr komisch ist. Die Sätze verschwören sich gegen ihren Denker. Und wer die Sprache dirigieren möchte, merkt bald, dass es wohl doch eher umgekehrt ist. „Seltsam, Du bist nur in Sätzen in Sicherheit, die Dich wiegt, und nur in Sätzen in Freiheit, aber in welcher.“ IRENE GRÜTER

Oskar Pastior: „Die letzte Lesart“. Eine Rekonstruktion der Büchner-Preis-Lesung mit Zwischentexten von Klaus Ramm, 79 Minuten, Hörverlag 2007, 19,95 Euro