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GEDENKPOLITIK Mit der Gründung des „Zentralrats der Asozialen in Deutschland“ will der Berliner Performer Tucké Royale auf Kontinuitäten und Brüche der Stigmatisierung als „Asoziale“ aufmerksam machen

Bis heute kann weder von einer ernsthaften Anerkennung noch von einer Entschädigung die Rede sein

VON ROBERT MATTHIES

Einmalig, umfassend und überraschend sollte der „Zugriff“ auf die „Arbeitsscheuen“ erfolgen, hatte Heinrich Himmler noch im Januar 1938 gefordert. Im April 1938 kam es zur ersten Verhaftungswelle der Aktion „Arbeitsscheu Reich“: bis zu 2.000 Männer wurden ins Konzentrationslager Buchenwald deportiert. Zwei Monate später wurden noch einmal mehr als 9.000 Männer verschleppt, darunter auf persönliche Anordnung Hitlers überproportional viele Juden, die wegen marginaler Delikte inhaftiert wurden.

Die beiden Verhaftungswellen waren der Auftakt für die groß angelegte nationalsozialistische „Aussonderung“ von „Gemeinschaftsuntauglichen“. An die Stelle von Drangsalierung und Vertreibung all jener, die vom rassistisch begründeten „volkshygienischen Standpunkt“ aus als „unerwünscht“ und „gemeinschaftsfremd“ galten, trat nun ihre systematische Erfassung und Ermordung.

Eine merkwürdige Sammelkategorie für eine ganze Reihe sozialer Gruppen wurde so geschaffen. Als „asozial“ galten neben als „fremdrassige Asoziale“ klassifizierten Roma und Sinti und vermeintlich „Arbeitsscheuen“ vor allem an den Rand gedrängte soziale Minderheiten wie Obdachlose, Bettler, Wanderarbeiter und Landstreicher, „selbstverschuldete Fürsorgeempfänger“, kinderreiche Familien aus der so genannten Unterschicht, Alkoholkranke, Prostituierte und Zuhälter oder „getarnt Schwachsinnige“.

Schon in der Lagerhierarchie standen die so genannten „Asozialen“ wie selbstverständlich ganz unten. Auch nach 1945 setzte sich ihre Diskriminierung politisch, entschädigungsrechtlich und im populären Verständnis ungebrochen fort, blieb der Begriff „asozial“ unhinterfragter Bestandteil stereotypen Alltagsdenkens. In der Bundesrepublik wurde er zum Argument gegen unkonventionelle Jugendkulturen (Gammler, Punks), die DDR verurteilte „Arbeitsscheue“ zur „Arbeitserziehung“.

Auch in der Erinnerungskultur blieb die Opfergruppe der so genannten „Asozialen“ randständig, wurde selbst von anderen Gruppen von Verfolgten des NS-Regimes jahrezehntelang nicht anerkannt. Bis heute kann weder von einer ernsthaften Anerkennung noch von einer materiellen oder auch nur moralischen Entschädigung die Rede sein. „Asoziale“ haben keine Lobby und tauchen im öffentlichen Gedenken nicht auf. Selbstzeugnisse sind selten, es gibt kaum bekannte Überlebende und Nachkommen von Überlebenden. Immer noch ist die Scham zu groß, das erlittene Unrecht zur Sprache zu bringen.

Mit einem Kunstgriff will eine Gruppe um den Berliner Performer Tucké Royale nun nach 70 Jahren Schweigen die Stigmatisierung so genannter „Asozialer“ auf die Tagesordnung der kulturellen Gedenkpolitik setzen. Ab Mittwoch lädt die Gruppe vier Tage lang auf Kampnagel zur „Feierlichen Inauguration“ des „Zentralrats der Asozialen in Deutschland“. Im April gibt es noch einmal Termine im Berliner Maxim Gorki Theater, danach wolle man nomadisch durch die Republik ziehen, sagt Royale.

Was zunächst als „soziale Plastik“ im Kulturzentrum daherkommt, ist politisch durchaus ernst gemeint. „Wir wollen generell eine Aufmerksamkeit für diese Opfergruppe herstellen“, sagt Royale. „Wir sind eine Lobbygruppe, werden einen Verein gründen und orientieren uns an den Körperschaften öffentlichen Rechts der Zentralräte der Juden und der Sinti und Roma.“ Zumindest eine moralische Rehabilitierung wolle man erreichen, aber auch eine materielle Entschädigung einfordern.

„Wir bewegen uns osmotisch auf der Grenze von Kunst und Politik“, sagt Royale. „Unsere Methode ist das Pre-Enactment: Wir stellen historische Ereignisse nicht nach, sondern her.“ Der erinnerungspolitischen Arbeit lokaler Initiativen, die sich seit vielen Jahren für die Rehabilitierung stigmatisierter Opfer des Nationalsozialismus einsetzen, wolle man so Unterstützung und Sichtbarkeit anbieten. „Wir sind dabei aber keinem erinnerungspolitischen Gestus verpflichtet, das ist eine Chance“, sagt Royale. „Dafür kennen wir uns als Künstler mit Prozessen der Beschleunigung und der Veröffentlichung aus.“

Noch strickt die Gruppe am Rahmenprogramm, kurzfristig soll es auf der Internetseite www.zentralrat-der-asozialen.de angekündigt werden. Ein paar Koordinaten aber sind klar: „Zunächst müssen wir uns am ersten Abend erklären“, sagt Royale. An den folgenden Tagen sollen tagsüber Aktionen in der Stadt stattfinden und abends ein Rahmenprogramm auf Kampnagel. „Und am vierten Tag werden wir unsere Arbeit an eine Hamburger Ortsgruppe übergeben“, sagt Royale.

Ein Tortenessen mit der Jobcenterfahnenflüchtigen Inge Hannemann wird es geben, eine Veranstaltung mit dem Oberstaatsanwalt a.D. Dietrich Kuhlbrodt, der etliche NS-Verbrechen zur Anklage gebracht hat. Außerdem will die Gruppe um Royale dreieckige Kästen mit Schwarzen Klee in der Stadt pflanzen – analog zu den Stolpersteinen des Künstlers Gunter Demnig. „Wir stehen eben noch am Anfang“, sagt Royale.

■ Mi, 18. 3., 18 Uhr; bis Sa, 21. 3., tägl. 18 Uhr