Europa rettet Demorecht

HEILIGENDAMM Fünf Tage Vorbeugehaft für zwei Transparente – das geht nicht, sagt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und rügt die Bundesrepublik Deutschland

VON MARTIN KAUL

BERLIN taz | Das Urteil ist deutlich und einstimmig gefallen: Weil deutsche Behörden bei den Protesten gegen den G-8-Gipfel in Heiligendamm zu hart gegen Demonstranten vorgingen, hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) am Donnerstag die Bundesrepublik Deutschland gerügt.

Zwei Männer hatten in Straßburg geklagt, nachdem sie zu Beginn der Proteste im Juni 2007 über fünf Tage lang in Vorbeugehaft genommen worden waren. Der Grund: Sie hatten zwei Transparente mit der Aufschrift „freedom for all prisoners“ („Freiheit für alle Gefangenen“) und „free all now“ („Befreit alle jetzt“) bei sich getragen. Daher sah die Polizei sie als potenzielle Straftäter an und buchtete sie vorsorglich ein. Erst nach den Protesten ließ man sie laufen.

Der EGMR sieht in der Festnahme der beiden Männer einen Verstoß gegen das Menschenrecht auf Freiheit und Sicherheit (Art. 5) sowie gegen die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (Art. 11).

Kritik an den Festnahmen

Im am Donnerstag veröffentlichten Urteil heißt es: „Durch das Tragen der Parolen hatten sie beabsichtigt, das Sicherheitsmanagement der Polizei, insbesondere die hohe Zahl von Festnahmen zu kritisieren. Ein mehrtägiger Freiheitsentzug für den Versuch, diese Transparente zu tragen, hatte eine abschreckende Wirkung für die Äußerung einer solchen Meinung und schränkte die öffentliche Diskussion zu diesem Thema ein.“

Zuvor hatten deutsche Gerichte in allen Instanzen die vorbeugende Ingewahrsamnahme mit unterschiedlichen Begründungen stets für rechtens erklärt: So sei die Aufschrift des Transparents als Aufruf zur Gefangenenbefreiung zu werten gewesen. Auch habe der Verdacht bestanden, die beiden Männer hätten selbst eine Gefangenenbefreiung geplant haben können. Unsinn, wie der EGMR nun feststellte. Die beiden Männer hätten keinerlei Werkzeug dabei gehabt, und es hätte keine Hinweise auf eine tatsächlich geplante Gefangenenbefreiung gegeben.

Die Anwältin der Kläger, Anna Luczak, sagte: „Die deutschen Behörden – Polizei und Justiz – müssen nach diesem Urteil ihre Praxis der Freiheitsentziehung auf den Prüfstand stellen. Solange keine konkrete zu erwartende und zu ahndende Tat oder ein Pflichtverstoß zu erkennen ist, darf das Freiheitsrecht nicht beschränkt werden.“

Sven Schwabe, einer der beiden Kläger, sagte der taz: „Es ist schon seltsam, dass deutsche Gerichte, denen die Sache insgesamt siebenmal zur Entscheidung vorlag, die offensichtliche Rechtswidrigkeit nicht gesehen haben.“ Sowohl das Bundesjustizministerium als auch das Innenministerium von Mecklenburg-Vorpommern wollen nun prüfen, welche Konsequenzen aus dem Urteil zu ziehen sind. Gegen das Urteil kann die Bundesregierung noch Rechtsmittel einlegen.

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