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Archiv-Artikel

Die Wirtschaft als Retter

Für die Landräte und Bürgermeister zwischen Bodensee, Schwarz- und Odenwald ist die Welt wieder in Ordnung. Auch die in- und ausländischen Investoren frohlocken. Denn der „Standort Deutschland“ ist seit der Volksabstimmung in Baden-Württemberg nicht mehr in Gefahr. Die Wirtschaft hat dabei nachgeholfen

DER ONLINE-DIALOG

Geplättet Ich bin immer wieder geplättet über die Intrigen, diese Machtfront, diese Lügen und Unverschämtheiten, dieses Hinwegregieren, vor allem wenn das alles so wie hier in einem Text erscheint. Wir müssen uns tatsächlich nicht wundern, dass wir es am Sonntag nicht geschafft haben. Wir sollten im Gegenteil stolz darauf sein, dass wir es mit zigtausenden Freizeitstunden Arbeit geschafft haben, überhaupt so viele Stimmen zusammenzubekommen. Das alleine ist schon ein Sieg. Hätten wir im Vorfeld gleichwertige Chancen gehabt, hätten sie einpacken können. Und: Der Widerstand ist nicht am Ende, da können sie noch so laut tönen, wir hätten kein Recht mehr dazu. Das Recht dazu ergibt sich aus den Tatsachen, die hier aufgeführt sind, ganz abgesehen von dem Murks, der da gebaut werden soll. Wir wollen uns unsere Stadt nicht verschandeln lassen, nur weil ein paar macht- und geldgierige Schlünde den Hals nicht voll bekommen können! PHS1961

Aufgeregt super artikel. was hab ich mich letzte woche aufgeregt, als die großkotzigen affen uns das ende der welt erzählen wollten, wenn dieser seltsame bahnhof nicht gebaut wird. aber nun ja, hat ja leider funktioniert. armes stuttgart. Retter

Nicht geplättet Also, ich bin nicht geplättet davon, dass die Wirtschaft ihre geballte Macht eingesetzt hat, um den Grundstücksdeal vom Volk absegnen zu lassen: Das ist erwartbar, das war noch nie anders in diesem unserem Land. Geplättet bin ich von den freiwilligen politischen Helfern vor allem in der SPD, die sich – nicht nur in diesem Fall und nicht nur in Baden-Württemberg – wieder und wieder zum Knecht des Kapitals machen. Beachtlich finde ich, dass entlang der Rheinschiene fast überall die Menschen wenigstens mehrheitlich gegen S 21 gestimmt haben, während zum Beispiel entlang der Gäubahn wohl noch an Märchen geglaubt wird. An der Rheinschiene kämpfen die Leute um einen vernünftigen Ausbau der Bahn, entlang der Gäubahn wird d’Gosch g’halte und Auto g’fahre und so sieht das Ergebnis dann auch aus. Kauderland halt. B.Oehler

von Hermann G. Abmayr

Stuttgart bekommt einen neuen achtgleisigen Tiefbahnhof, eine, so die Bundeskanzlerin, „für ganz Deutschland wichtige Modernisierung der Infrastruktur“. Das Volk als Retter in der Not. Die Stuttgarter Republik, so die Hoffnung in Berlin, bleibt damit eine Episode, die Wortschöpfung einiger Journalisten, an die sich bald niemand mehr erinnern wird.

Noch vor einem Jahr hatte Angela Merkel befürchtet, „wenn dieses Projekt nicht realisiert wird, dann würde es dazu kommen, dass wir als nicht mehr verlässlich gelten“. Wenn sie als Bundeskanzlerin einräumen müsse, dass Deutschland aufgrund von vielen Protesten seine Zusagen nicht mehr einhalten könne, dann käme „morgen mein griechischer Kollege und sagt: Weil bei uns so viel protestiert wurde, kann ich die Stabilitätszusagen nicht mehr einhalten“. Das war vor der Griechenland- und der inzwischen drohenden erneuten Bankenkrise. Ob sich Giorgos Andrea Papandreou dann tatsächlich auf das renitente Volk in Baden-Württemberg berufen hat, ist nicht überliefert.

Aber wir wissen, dass am Wahlsonntag „ganz Europa“ auf Stuttgart geschaut hat. Dies hatte jedenfalls der oberste Banker der Republik, Klaus-Peter Müller, zwei Tage zuvor prophezeit. Der Präsident des Bundesverbands der deutschen Banken und des Deutschen Verkehrsforums ist zwar kein Schwabe, aber sein Herz schlägt schon seit geraumer Zeit für Stuttgart 21. Schon im Herbst des Vorjahres hatte der langjährige Vorstandssprecher und heutige Aufsichtsratsvorsitzende der Commerzbank entschieden vor einem „Vertragsbruch“ bei dem Milliardenprojekt gewarnt.

„Ganz Europa“ hat also Interesse gefunden, wenngleich aus gegensätzlichen Gründen. Die Wochenzeitung Die Zeit erkannte bereits Mitte 2010 das Aufbrechen eines neuen Zeitalters, das der „Stuttgarter Republik“. Die Bürger seien „auf den Geschmack gekommen“. Die Stadt Stuttgart kenne ihn nun, „den Duft der Rebellion“. Die biedere Hauptstadt der Kurzarbeit – 2009 infolge der Weltwirtschaftskrise – wurde Protesthauptstadt.

Die Eliten und die Möchtegern-Eliten aus Wirtschaft und Politik verstanden die Welt nicht mehr. Ob für den Dorfbürgermeister in Oberschwaben, den Banker in Frankfurt oder für den Milliardär in Stuttgart, die herrschende Ordnung schien in Gefahr. Noch ging es nicht um den Kapitalismus an sich oder seine aktuelle Casino-Variante. Noch hatten Europas Konservative nicht begonnen darüber nachzudenken, dass die Linke vielleicht doch „recht haben könnte“. So der Kolumnist Charles Moore, ein Thatcher- und Reagan-Anhänger der ersten Stunde. Oder Frank Schirrmacher, Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der im Sommer 2011 mit seiner Entdeckung Schlagzeilen machte, dass das politische System nur den Reichen diene.

Nein, ein Jahr zuvor ging es nicht um kritische Theorien, sondern um Handfestes, um einen Abrissbagger und sein gefräßiges Gebiss. Und um Bürger aller Schichten und Altersstufen, die dem „Ungetüm“ Einhalt gebieten wollten, als es sich an ihren Hauptbahnhof wagte. Diese neue Kultur des Umgangs mit moderner Technik und Obrigkeit hatte auch den Motorsägenhersteller Hans-Peter Stihl, den knapp 80 Jahre alten Grandseigneur der schwäbischen Unternehmer, unruhig gemacht. Der Weltmarktführer macht Milliarden Euro mit seinen „leisen Krachmachern“, und er macht leise und nicht minder erfolgreich hinter den Kulissen Politik. Doch als ihm das Demovolk nach dem „Stuttgarter Sommermärchen“ zu bunt und zu renitent geworden war, trat er vor die Kulissen und kanzelte via Interview die Wirtschaft wegen ihres mangelnden Engagements für Stuttgart 21 ab.

Das Milliardenprojekt zur Staatsaffäre erklärt

Von da an ging's bergauf oder – um bei Stuttgart 21 zu bleiben – bergab, schnurstracks in einen Kellerbahnhof, bei dessen Eröffnung Stihl gerne noch dabei sein möchte. Nicht weil er seinen Chauffeur entlassen und seinen Privatflieger verkaufen wollte, um Zug zu fahren. Nein, um die alte Ordnung wiederhergestellt zu sehen.

Das hatte auch Angela Merkel überzeugt. Überraschend meldete sich die Bundeskanzlerin kurz danach bei der Haushaltsdebatte in Berlin zu Wort. Sie habe das Milliardenprojekt zum „Siegel des schwarz-gelben Gestaltungswillens“ gemacht, kommentierte die FAZ, „gewissermaßen zur Staatsaffäre erklärt“, analysierte die Stuttgarter Zeitung. Schließlich gehe es nicht nur um das größte Infrastrukturprojekt Europas, sondern auch „um die Legitimität parlamentarischer Entscheidungen, um die Selbstlähmung eines Landes, das von Technologieexport lebt und dessen wirtschaftliches Wohlergehen einer funktionierenden Infrastruktur bedarf“.

Nur Tage später verriet Angela Merkel mit dem Hinweis auf ihren griechischen Amtskollegen, warum ihr eine Niederlage der Aufständischen im Südwesten so wichtig ist. Mit Bedacht hatte sie dafür eine Veranstaltung des Bundesverbands der Industrie (BDI) ausgewählt. Hans-Peter Keitel, der Präsident des BDI, zuvor des Hauptverbands der deutschen Bauindustrie, zuvor Hochtief, zuvor Lahmeyer International, jammerte mit Blick auf Stuttgart 21 über die „überall reflexhaft inszenierten Proteste“. Es sei dramatisch, dass völlig überzogene Planungs- und Genehmigungsverfahren dazu führten, demokratisch legitimierte Ergebnisse abzulehnen, klagte der Lobbyist. „Deshalb steht bei Stuttgart 21 mehr auf dem Spiel als ein Bahnprojekt.“

Hans-Peter Stihl, lange Jahre Chef des Verbands der Metallindustrie in Baden-Württemberg, IHK-Präsident in Stuttgart und Chef des Deutschen Industrie- und Handelstags bis 2001, konnte den damaligen BASF-Chef Jürgen Hambrecht gewinnen. Der gebürtige Württemberger gründete gleich eine Initiative mit prominenten Wirtschaftsführern, um mit dem Tiefbahnhof im Stuttgarter Talkessel die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland zu erhalten. Mit dabei Dieter Zetsche, Vorsitzender des Daimler-Vorstands, Bosch-Chef Franz Fehrenbach, EnBW-Vorsteher Hans-Peter Villis und weitere Wirtschaftsgrößen.

Nicht dass die Herren jetzt öfter Zug fahren wollten oder sich um ihre „lieben Mitarbeiter“ sorgten, die ohne Tiefbahnhof möglicherweise zu spät zur Arbeit kommen könnten. Nicht einmal um den Transport von Zuliefer- oder Ersatzteilen ging es, für den man ohnehin die Straße als subventioniertes Just-in-time-Lager bevorzugt. Nein, sagte Daimler-Chef Dieter Zetsche auf eine Nachfrage bei der Pressekonferenz, über die verkehrlichen Vorteile von Stuttgart 21 könne er nichts sagen. Er sei kein Fachmann. Und Hans-Peter Stihl gab schon in seinem Interview im Sommer zu: „Ich bin zu wenig in diesen Details drin, um hier eine klare Aussage machen zu können.“

Es ging also um etwas anderes: Dieter Hundt, der langjährige Präsident der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (BDA) und umstrittene Aufsichtsratsvorsitzende des VfB Stuttgart, brachte es auf den Punkt: „Wenn Stuttgart 21 gekippt wird, dann hat dies verheerende Auswirkungen auf unsere nationale und internationale Reputation als rechtssicherer und verlässlicher Wirtschafts- und Investitionsstandort.“ Stuttgart 21 stehe auch dafür, „ob wir uns in Deutschland dem Druck eines Teils der Öffentlichkeit beugen oder ob wir den Mut haben, rechtsstaatlich-demokratisch getroffene und verbindliche Entscheidungen durchzusetzen“. Das Projekt sei „das Symbol, wie wir in diesem Land mit demokratischen Entscheidungen umgehen – auch gegen Widerstand“.

Grube als Schutzpatron der Gewerbetreibenden

Bahnchef Rüdiger Grube stieg schließlich zum großen Helden der Wirtschaftslenker auf. Die IHK Region Stuttgart überreichte ihm im Oktober 2010 demonstrativ ihren höchsten Preis, den Merkur. Er ist der Schutzpatron der Gewerbetreibenden. Grube, lange Zeit Chefstratege im Daimler-Vorstand und mitverantwortlich für das Chrysler-Debakel, ist bei der Übergabe in der Stuttgarter Liederhalle „wie ein Messias“ (Süddeutsche Zeitung) gefeiert worden. Die IHK stehe „uneingeschränkt“ hinter Stuttgart 21, betonte deren Präsident Herbert Müller.

Eigentlich wollten die Herren dem Spuk spätestens bei der Landtagswahl im März 2011 ein Ende machen. Angela Merkel überhöhte die Wahl gar zur Volksabstimmung über Stuttgart 21. Doch sie wurde zur Volksabstimmung gegen ihre eigene Partei und brachte den ersten grünen Ministerpräsidenten der Republik an die Macht. Das war zu viel. Jetzt musste das Imperium zurückschlagen. Und dabei half der Juniorpartner, die SPD. Sie setzte bei den Koalitionsverhandlungen eine Volksabstimmung über den Finanzierungsanteil des Landes an Stuttgart 21 durch, ein Vorschlag aus dem Herbst 2010, den damals kaum jemand ernst nahm, denn er sollte lediglich die wegen Stuttgart 21 heillos zerstrittene eigene Partei befrieden. Die Abstimmung würde keine Gefahr sein, denn die Bahn könne immer auf Erfüllung der Verträge pochen, hieß es in der SPD. Zudem würden die Gegner des Tiefbahnhofs das extrem hohe Zustimmungsquorum ohnehin nie knacken können. Doch eine Mehrheit gegen das Milliardenprojekt würde dem renitenten Volk ein für alle Mal klarmachen, dass es sich künftig gar nicht mehr anstrengen muss, wenn ihm Beschlüsse von Parlamenten wieder einmal missfallen sollten.

Jetzt galt es, eine Einheitsfront zu bilden, der Bewegung von unten eine von oben entgegenzusetzen. Jetzt kamen die Dorfbürgermeister, Gemeinde- und Landräte ins Spiel. Sie alle sollten sich verbünden, um dem Wähler die Wahl zu erleichtern. Vom Städte- und Landkreistag über die Parteien – mit Ausnahme der Grünen und von Teilen der SPD – bis zum Industrie- und Handelskammertag wurde mobil gemacht.

Millionenbeträge für die PR-Aktion

Und am Geld fehlte es nicht. Die Bahn AG, immerhin das zweitgrößte Transportunternehmen der Welt, setzte ihren PR-Apparat ein und schickte Rüdiger Grube gleich in drei Sonderzügen zur Charmeoffensive durchs Land. Dem „Kommunikationsbüro“ für Stuttgart 21 stehen seit seiner Gründung für die Werbung ohnehin schon Millionenbeträge zur Verfügung, Gelder der Bahn und Steuergelder der Stadt und der Region Stuttgart sowie – bis zum Regierungswechsel – des Landes.

Der Verband der Region Stuttgart spendierte eine Million Euro für die S-21-Kampagne, und Stuttgarts Oberbürgermeister Wolfgang Schuster verschickte einen 130.000 Euro teuren Brief an die „lieben Mitbürgerinnen und Mitbürger“. Kleine und große Agenturen wurden damit beauftragt, die Kampagne zu führen, allen voran die Agenturgruppe Fischer-Appelt, die auch vom Arbeitgeberverband mitfinanziert wird. Unternehmen wie Daimler oder Stihl und der Arbeitgeberverband Südwestmetall bezahlten den Infobus, der durch Baden-Württemberg tourte.

Die IHK, Dieter Hundt, Hans-Peter Stihl, Jürgen Hambrecht und Industriekapitäne von Daimler, Bosch und anderen Konzernen rührten kräftig die Werbetrommel. Die Bauindustrie stellte den Arbeitgebern aller Branchen einen Brief zur Verfügung, der an die Mitarbeiter verschickt oder verteilt werden sollte. Und Hundts Landesvereinigung der Arbeitgeberverbände ließ 100.000 Euro springen, um dem Kinopublikum in Baden-Württemberg zu erklären, wo es das Kreuz machen sollte.