: Dieser Song handelt nicht vom Ficken
Vic Chesnutt, der seltsamste und traurigste Sänger des New Weird America, spielt heute Abend im Lido
Vic Chesnutt ist 43 Jahre alt, aber seine Stimme klingt karger, schwerer; man müsste lügen, um sie schön zu nennen, so knarrt und krächzt es manchmal. Denn Chessnut hat einiges durchgemacht, bevor ihn Michael Stipe von REM vor gut 20 Jahren bei einem Konzert entdeckte und ihn daraufhin einlud, ein Album mit ihm aufzunehmen. Nach „Little“ hat Chesnutt inzwischen zwölf Alben herausgebracht – und sich damit den Ruf des Chefsonderlings der an Sonderlingen nicht armen amerikanischen Folkszene erspielt.
Auf „North Star Deserter“, seinem neuen Album, kultiviert er wieder seinen sehr eigenen Blick auf die Welt – der zuallererst davon geprägt sein mag, dass er, gerade volljährig, besoffen mit dem Auto im Graben landete und seitdem vom Bauch abwärts gelähmt im Rollstuhl sitzt. Auch die Tatsache seiner ziemlich verkorksten Kindheit als adoptiertes Kind im Redneck-Hinterland Georgias scheint wie seine Vorliebe für moderne Lyrik die Art und Weise zu beeinflussen, wie er in seinen Liedern Geschichten erzählt.
Auf dem ersten Stück seines neuen Albums „North Star Deserter“ namens „Warm“ (das er live gerne mit den Worten ankündigt: „Ok, this song, it’s not about fucking“) singt er über ein paar karg dahingezupfte Akkorde von der Wärme von Körpern und ihrer Verletzlichkeit: „What is the message on those gamma rays that are penetrating you? Do they say that the end it is coming soon? Or do they say, forget the sun, worship the moon?“ Um sich dann selbst die Antwort zu geben: „Anyway, A or B, you know, it’s alright with me.“
Keine Bitterkeit gibt es bei Chesnutt, sein eigenes Leiden verpackt er in rabenschwarzen Zynismus, große Lakonie und jede Menge Behindertenwitze auf eigene Kosten. Seine nasale, kehlige Stimme aber und die schonungslose Offenheit, mit der er sein Leben besingt, verleihen den Liedern eine berührende Ernsthaftigkeit und zeugen von einer tiefen Ruhe und großer Menschlichkeit. Denn nichts ist so schlimm, dass es nicht weitergehen würde, oder wie es in dem ziemlich witzigen „You are never alone heißt“: It’s okay, you can take a condom, it’s okay, you can take viltrax, it’s okay, you can take an abortion, and then keep on, keep it on“ – bevor dann ein beschwingter Chor einsetzt und hymnisch den Refrain intoniert. „My soul in its special hell“, so hat er sich selbst beschrieben und davon handeln seine Lieder.
„North Star Deserter“ ist auf dem kanadischen Label Constellation Records erschienen, und fast die gesamte Indieszene Montreals musiziert auf dem Album mit. Auf seiner Tour, bei der er heute Abend in Berlin im Lido spielt, hat er den Gitarristen der legendären Punkband Fugazi dabei und die halbe Besetzung von Godspeed You! Black Emperor.
Obwohl Chesnutt sich eigentlich nahtlos in die lange Americana-Singer-Songwriter-Tradition nach Bob Dylan und Neil Young einreiht, gibt es auf „North Star Deserter“ und auf der Bühne dank der Gastmusiker immer wieder Ausflüge in den Postrock. Flirrende Gitarrenfeedbacks und verästelte Melodiebögen liegen über den rohen Sounds seiner Akustikgitarre.
ADRIAN RENNER