Schreiben oder sich umbringen

SCHRIFTSTELLER Das Ziel: dass sich Gewalt, Missbrauch, Sucht nicht wiederholen. Der Weg: Selbst- erkenntnis durch das Verfassen von Romanen. Eine Begegnung mit Edward St Aubyn, der gerade seine gefeierte Melrose-Saga abschloss

VON DANIELA ZINSER

Am Ende des Gesprächs hat Edward St Aubyn eine revolutionäre Idee. Was, wenn Schreiben ihm Spaß machen würde? Wenn er es genießen könnte, Satz um Satz in sein schwarzes Notizbuch einzutragen, so, wie er es immer tut, bevor er die Kapitel in den Computer überträgt. Er lacht ein bisschen, er traut sich selbst nicht recht zu, dass ohne die Qual auch die Qualität stimmt.

Sieben Bücher hat Edward St Aubyn bislang veröffentlicht, und jedes davon war beim Schreiben die Hölle. Eine Art Selbstkreuzigung. Er konstatiert das. Jahrzehntelang waren sie für ihn selbstverständlich, die Schweißausbrüche, Zusammenbrüche, Abbrüche während der Entstehung eines Romans. Für sein neues Buch, das unter dem passenden Titel „Zu guter Letzt“ nun auf Deutsch erschienen ist (aus dem Englischen von Sabine Hübner, Piper Verlag, 224 Seiten, 17,99 Euro), hat er fünf Jahre gebraucht.

Es ist der krönende Abschluss der Melrose-Saga, die über fünf Bücher hinweg die Geschichte von Patrick Melrose und seiner kaputten englischen Upperclass-Familie erzählt. Mit fünf Jahren wird Patrick von seinem sadistischen Vater vergewaltigt, als Jugendlicher ist er heroinabhängig, zwölf Jahre lang, bis 28, später ist es der Alkohol, Depression, er denkt nicht nur ein Mal an Selbstmord, taumelt durch die Uni, das Partyleben, seine Ehe.

Im zweiten Buch beerdigt Patrick seinen Vater, im fünften, letzten, stirbt nun die Mutter. Wie viele seiner Romane spielt es an einem Tag, an ihrer Beerdigung im Jahr 2005, erst Trauerfeier, dann Leichenschmaus. Das personelle Inventar der vergangenen Geschichten taucht wieder auf, die Erinnerungen kommen mit. „Ich glaube, der Tod meiner Mutter ist das Beste, was mir je passiert ist, seit … na ja, seit dem Tod meines Vaters“, sagt Patrick an einer Stelle des Buchs.

Die Mutter hieß Eleanor, sie dröhnte sich mit Alkohol und Tabletten zu. Ihr Sohn diente „nur als Spielzeug in der sadomasochistischen Beziehung seiner Eltern“, wie Patrick erkennt. Dem eigenen Sohn kann sie nicht helfen – sie engagiert sich lieber wohltätig, rettet fremde Kinder, enterbt das ihre und vermacht alles Hab und Gut einem Esoterikguru.

Stilistisch brillant, voller Ironie und großer Beobachtungsgabe schildert Edward St Aubyn all das. Und er erzählt sein Leben. Irgendwann antwortete er auf die ewige Frage nach dem Autobiografischen in seinem Werk schlicht: Ja, Patrick ist mein Alter Ego. Seitdem ist es schwer, dieses Wissen wieder loszukriegen und sich als Leser wie als Journalist von den Klischees zu befreien. Manche Kritiken lesen sich, als seien sie eher als Therapievorlagen gedacht.

Und zuerst ist der heute 51-jährige Autor auch genau so, wie man sich das vorstellt, von wegen alter englischer Hochadel. Seiner Familie gehört halb Cornwall. Im Literaturhauscafé in der Berliner Fasanenstraße rührt er im schwarzen Tee, er ist ausgesucht höflich, trägt gedecktes Dunkelblau, das Gesicht ist hell, fast zu jugendlich. Er spricht leise, scheint erschöpft vom ewigselben Thema, der nächste Laut, denkt man, könnte auch ein Schluchzen sein. Interviews mag er nicht besonders.

Aber dann ist da das fest rebellisch wirkende orangefarbene T-Shirt unter dem konservativen Hemd. Seine Stimme wird sich später auf dem Tonband viel fester anhören. Er kann wunderbar Anekdoten erzählen und über die Pointen lachen, seine Worte haben oft eine Schmuckschleife am Ende, edle, gehobene Sprache. Er macht sehr klar, dass er trennen will zwischen Leben und Arbeit, dass er Respekt will als Schriftsteller und kluge Analysen seiner Bücher.

Schlechte Entscheidungen

Ob er sein Geständnis je bedauert habe? Nie. „Die Melrose-Romane drehen sich darum, die Wahrheit zu finden und zu sagen. Da wäre es wenig hilfreich gewesen, gerade in dem Punkt zu lügen.“ Etwas Besonderes sei all das aber nicht, sagt St Aubyn. Er glaube nicht, dass ein Schriftsteller je etwas geschrieben hat, was hundertprozentig frei sei von Autobiografischem. Gerade im Vaterland der Klatschsucht, Großbritannien, war es allerdings schwer für St Aubyn, als Autor anerkannt zu werden und nicht als Opfer dieser Familie, deren ererbter Reichtum er als junger Mann verprasste. Erst als sein vorletzter Roman, „Muttermilch“, für den Booker-Preis nominiert war, ist jede Kritik ein einziger Jubel. St Aubyn liest sie nie. Angst, ihnen gerecht zu werden, hat er gleichwohl.

Nach „Muttermilch“ spendierte ihm seine Schwester, die es in seinen Büchern nicht gibt, eine Woche in einem französischen Hotel, um ein neues Buch zu beginnen. Am letzten Abend hatte er ein komplett leeres Notizbuch und ein schlechtes Gewissen. Allein im Restaurant schrieb er „ ‚Überrascht?‘ sagte Nicholas Pratt“ – und auch er war überrascht. Die Figur, ein alter Freund von Patricks Vater, hatte sich einfach so angeschlichen. Es wurde der erste Satz des Buchs. „Ich hatte keine Kontrolle bei diesem Roman. Die meiste Zeit wusste ich nicht, was passieren würde“, sagt St Aubyn. Sogar das Ende war nicht geplant. Eigentlich sollte es ein sechstes Buch über die Melroses geben. Aber dann war es plötzlich vorbei.

Schreiben oder sich umbringen, sagte sich Edward St Aubyn beim ersten Buch. In „Zu guter Letzt“ ist Patrick am Ende befreit. Soweit ihm das möglich ist. „Er hat eine gute Chance, dass er nicht in dieselben Wiederholungen und Fänge gerät wie seine Eltern“, sagt St Aubyn. Dass sich Gewalt, Missbrauch, Sucht nicht wiederholen. Der Weg: Selbsterkenntnis. Das ist das Thema aller fünf Romane, dieser 22 Jahre schriftstellerischen Arbeit. „Alles Zerstörerische im Leben entsteht aus fehlender Selbsterkenntnis“, sagt der Autor.

Patrick sehe seine Mutter nicht als böse Kraft an, aber als jemanden, dessen drastisches Fehlen von Reflexion dazu führt, dass sie eine schlechte Entscheidung nach der nächsten trifft und sich ihr Gutmenschentum ins Gegenteil verkehrt. „Wenn es eine zu große Kluft gibt zwischen Liebesfähigkeit, Güte und Weisheit und Selbsterkenntnis, dann wird das Gutsein unterminiert. Es wird zerstörerisch“, sagt der Schriftsteller. Wahrscheinlich deshalb sind ihm alle suspekt, die Programme und hohe Ideale haben. Sie seien gern bereit, den Einzelnen der Sache zu opfern.

Ein Teil von Patricks Freiheit ist es auch, unversöhnt zu bleiben. Nicht immer nach Erlösung zu suchen und damit immer an alles erinnert zu werden. „Ich glaube, Freiheit im simpelsten Sinne ist, deine Aufmerksamkeit dorthin zu lenken, wohin du es willst, nicht getrieben zu sein von einem Verlangen oder fixiert auf eine Obsession“, sagt der Autor.

Versöhnlich wird es im Buch gerade da, wo Patricks Kinder auftauchen. St Aubyn hat selbst eine Tochter und einen Sohn im Teenageralter. „Für jemanden, der sich helfen lassen will, kann es extrem gut sein, Kinder zu haben, weil es eine ganz neue Art von Empathie und Mitleiden ist. Sie sind wie Schuldeneintreiber, die in deinem Unterbewusstsein verdrängte Hilflosigkeiten und Abhängigkeiten hochbringen“, sagt er. Er spricht über Patrick, aber auch über sich selbst.

St Aubyn seufzt. Puh, „schwere Themen“. Die Zuckertütchen auf dem Tisch hat er im Würgegriff. Seine Bücher sind voll von dieser Art treffender Tiefenanalyse, von feinen Gesellschaftsstudien, er lässt Figur um Figur unkommentiert auftreten wie in einem Kammerspiel. Die Romane sind durchfühlt und empathisch und doch kühl. Ironisch an so vielen Stellen. Im Buch heißt es: „Heroin? Lächerlich. Aber versuch einfach mal, die Ironie aufzugeben, dieses tief verwurzelte Bedürfnis, zwei Dinge gleichzeitig zu meinen, an zwei Orten gleichzeitig zu sein, für die Katastrophe der festgelegten Bedeutung nicht zur Verfügung zu stehen.“

Durchfühlt und doch kühl

In der Vergewaltigungsszene im ersten Buch, „Schöne Verhältnisse“, rettet Patrick diese Verweigerung einer festgelegten Bedeutung: Er stellt sich vor, er sitze auf der Vorhangstange und blicke hinunter auf das, was dort auf dem Bett geschieht. Am Ende der Melrose-Sage traut Patrick sich nun, nur eine Sache zu denken. Seine Sehnsucht nach Authentizität ist zum ersten Mal größer als die nach Ironie.

Wie so vieles, was St Aubyn sagt und vor allem schreibt, kann das als persönliche Erfahrung, als literarisches Bild oder auch als Anleitung verstanden werden, als Denkhilfe für den Leser. Das war es, was St Aubyn zum Schreiben gebracht hat: die Sehnsucht nach einer Brücke zu jemandem, die die Einsamkeit beendet, der einen versteht. Erst war er am einen Ende der Brücke, als Leser, nun ist er am anderen. Schreiben war sein Gegenmittel, seine Ordnung im Chaos der Welt. Mit zwölf schrieb er an seinem ersten Buch, 40 Seiten. Er hat sie weggeworfen. Und zwei, drei weitere Bücher auch.

Erst als sein Vater tot war, begann er mit 28 Jahren mit „Schöne Verhältnisse“. Er schrieb nicht, damit es ihm besser ging, eher ging es ihm dabei noch schlechter. Erst als die Bücher Leser finden, ist es für ihn ein Gegengift. Bis Weihnachten gibt er sich Zeit, ein neues Mittel auszuprobieren: Freude beim Schreiben. Dann will er das Ergebnis jemandem zeigen und erfahren, ob es was taugt. Oder ob derjenige sagt: Geh lieber und leide wieder!