: Nachbarn verstecken sich hinter der eingeschmissenen Scheibe
FOTOGRAFIE In einer Retrospektive der umfangreichen Fotoessays von Bettina Flitner in der Kölner Hornbach-Stiftung wird ihr Blick für die prekären Ränder des Stadtlebens sichtbar
VON SEYDA KURT
Die Antwort auf ein einfaches „Wie fühlen Sie sich?“ kann einem Nobody ein politisches Profil geben. „Früher hat das Essen 30 Pfennige gekostet, jetzt kommt’s aus dem Westen und kostet ab nächste Woche 4 Mark. Dann hör ich auf zu essen und spar auf die Beerdigung“, ist die Antwort einer gebrechlichen Dame, die Bettina Flitner 1990 fotografiert hat. Die Aufnahme in Schwarz-Weiß lässt das sonnige Frühlingswetter nur erahnen. Auf einem weiteren Bild steht eine junge Frau vor einer hohen Betonwand. „Aber als ich dann drüben war, die Eisenbahn, der Wald, die Geräusche waren die gleichen.“ Die Augen hält sie geschlossen und das Gesicht zum Himmel. Vielleicht ist die Luft nun doch eine andere. Die Fotografin Bettina Flitner fängt sie ein in ihrer „Reportage aus dem Niemandsland“, eine 46-teilige Fotoarbeit, entstanden auf dem ehemaligen „Todesstreifen“ von Berlin.
Ausgestellt wird sie mit sieben weiteren Fotoessays aus den letzten 25 Jahren in Köln, wo Flitner zu Hause ist. Aus etwa 100 Exponaten stellte Kurator Gérard A. Goodrow die Retrospektive „Face to Face“ zusammen. Die großzügigen Kunsträume der Michael Horbach Stiftung, mit über 1.000 m[2]Fläche in der Kölner Südstadt, ermöglichen eine umfangreiche Werkschau.
Im Fotoessay „Ich bin stolz, ein Rechter sein“ (2001) blicken neun junge Gesichter aus den Vorstädten Berlins frontal in die Kamera, wieder versehen mit der für Flitner typischen Selbstauskunft der Fotografierten. „Die Ganzkörperaufnahmen zeigen ihre Selbstinszenierung“, so Flitner. In szenetypischer Aufmachung wirken die Jugendlichen bedrohlich. Manche stehen stramm, wie Soldaten, einer trägt einen Baseballschläger. Selbstinszenierung funktioniert bei Flitners Fotografien besonders durch solche Requisiten, die eine große Kraft in den minimalistischen Kompositionen haben. Viele Ihrer Aufnahmen erfolgten am Straßenrand oder vor einer Hausfassade.
Fleischige Nasen
Die Kopfbilder zeigen hingegen kindliche Gesichter mit fleischigen Nasen, wie etwa das von Denis, der gerne „Kanaken“ verprügelt. Solche und andere Kommentare, wie „Warum ich rechts bin? Weil bei den Rechten die Hosen immer gut sitzen“, erschrecken. Die Selbstinszenierung wird zur Bloßstellung. Im selben Raum dokumentiert die 17-teilige Schwarz-Weiß-Fotoserie „Nachbarn“(1991) die Stimmung nach den rassistischen Ausschreitungen im sächsischen Hoyerswerda. Die geordneten Kompositionen, die Licht- und Schattenkontraste und die direkte Bildsprache machen diese zu Flitners inhaltlich und ästhetisch stärkster Arbeit. Die Hände in die Hüfte gestemmt, die Statur kräftig, blickt ein Mann im Unterhemd majestätisch von seinem Balkon auf sein Territorium: „Aber die Neger sind zu viel […] Die spielen sich hier auf, als wären die der König von der Albert-Schweizer-Straße.“ Der Nachbar im Flüchtlingsheim versteckt sich hinter der eingeworfenen Fensterscheibe.
In der Reportage „Sextouristen“ fotografierte Flitner in Pattaya, dem „größten Freiluftbordell“ Thailands, westliche Männer und bestätigt damit den Eindruck bestimmter Geschlechterrollen: Die Täter sind männlich. Die Opfer Frauen. Eine großartige Arbeit wie „Nachbarn“ zeigt dagegen, dass auch Männer Opfer ungleichmäßiger Machtverhältnisse sind.
„Prostituierte“ (2014) und „Freier“ (2013) sind Flitners jüngste Serien. Die Prostituierten vom deutsch-tschechischen Straßenstrich fotografiert sie an einem Herbsttag auf einem Baumstamm in freier Natur. Die Haltung ist steif, die Hände in den Schoß gelegt, der Blick fast demütig. Flitner fragt sie nach ihren Träumen und sie alle erzählen eine traurige Geschichte. Ihnen gegenüber sieht man Christian, Rudi und unterschiedliche Männer zwischen 23 und 72 Jahren, die sich selbstsicher von Flitner auf dem Bett eines Stuttgarter Wellnessbordells porträtieren ließen. Die Farben und das Licht sind warm.
Würde trotz Härte
Die Gegenüberstellung ist keine von Täter und Opfer. Doch lässt die einseitige Inszenierung der Prostituierten die Frage aufkommen, warum Flitner sich gerade für diesen Teil des Milieus entschieden hat. Sie empfinde die Darstellung der Frauen nicht als „demütig“, sagt die Fotografin. „Die BetrachterInnen sind oft erstaunt über die ausgestrahlte Würde der Frauen, trotz der harten Umstände.“ Und sie habe die Menschen fotografiert, die sie dort traf, und ihre Geschichten weitererzählt. Die Grenzen zwischen Kunst und Journalismus, zwischen politischen Statements und Begegnungen auf Augenhöhe sind fließend. Bettina Flitner gelingt es jedoch in allen Bereichen, eine wesentliche Frage zu stellen: Wie fühlen Sie sich?
■ Kunsträume der Michael Horbach Stiftung, Wormser Straße 23 Köln, bis 18. April