Zermürbt im Warten

SPIELEN Traumata des Gefangenseins mischen sich mit Selbstinszenierungen als Held in dem Drama „603“ des palästinensischen Autors Imad Farajin. Zu sehen in einem arabischen Theaterdoppel im Heimathafen Neukölln

Am Ende scheint es für Ahmad nur den vorher verachteten Ausweg der Arbeitsmigration nach Dubai zu geben

VON TOM MUSTROPH

Der größte Held ist eine Mücke. Und die ist eingesperrt in eine Streichholzschachtel. Weil die bewusste Mücke nach Meinung eines seit acht Jahren inhaftierten Palästinensers einem israelischen Richter mehr zugesetzt hat als alle anderen Intifada-Aktionen insgesamt, wird sie in einem alltäglichen Ritual von den Zelleninsassen mit ihrem eigenen Blut gefüttert. Wer nicht mitmacht, ist kein palästinensischer Befreiungsheros mehr. Freilich wandert das tolle Tierchen nach der Mahlzeit wieder in die Schachtel zurück, so wie auch die Nahrungsspender nach einer Stunde Freigang wieder in die Zellen streben.

Die Mückenfütterung ist der absurde Höhepunkt eines an Gewalt- und Verzweiflungstaten reichen Doppelabends arabischen Theaters im Heimathafen Neukölln. Er setzt sich zusammen aus dem Gefängnisdrama „603“ des palästinensischen Autors Imad Farajin und „Rückzug“ des Syrers Mohammed al-Attar. Ersteres wird im Studio des Heimathafens selbst, in einem kargen weißen Raum mit der Anmutung einer Massenzelle, aufgeführt. Für „Rückzug“ wird man in eine Shisha-Bar um die Ecke geführt. Dort nimmt das Publikum auf Kissen und Diwanen Platz und schaut einem Damaszener Liebespaar bei der Einrichtung der ersten gemeinsamen Wohnung zu.

Das harmlose Liebesspiel weitet sich zu einem Gesellschaftsdrama aus, weil beide sich aus Angst vor ihren Eltern nur in freien Momenten in die Wohnung stehlen. Zudem trennt sie ihre berufliche Situation: Nour macht in den staatlichen Medien mit Berichterstattung über Celebrity-Events Karriere, während Ahmad sich als freier Autor nur der Wahrheit verpflichtet fühlt, unter diesem hohen Anspruch aber nur selten eine Zeile zustande bringt. Dieses Verhältnis von oberflächlicher Karrierefrau und zerquältem Undergroundhelden bricht jedoch auf, als Ahmad feststellt, dass andere Menschen viel mutiger sind als er.

Am Ende scheint es für ihn nur den vorher verachteten Ausweg der Arbeitsmigration nach Dubai zu geben. Mit hoher Konzentration und bemerkenswert wenig Angst vor realistischer Darstellung führen Javeh Asefdjah und Patrick Khatami dieses intensive Kammerspiel auf.

Noch dichter wird die Atmosphäre in dem Gefängnisstück „603“, in dem sich zu Asefdjah und Khatami noch Alois Reinhardt und Nadim Jarrar gesellen. Traumata des Gefangenseins mischen sich mit Selbstinszenierungen als Held und latenter Lust, die Schwachstellen der anderen auszuloten. Überwölbt wird dieses Psychogramm einer durch Kampf zermürbten Gesellschaft durch das Warten auf einen Bus für ein Gefangenenaustauschprogramm. Doch der kommt nicht.

Beide Stücke sind im Rahmen eines Projekts des Royal Court Theatre London mit jungen arabischen Dramatikern entstanden. Die Regisseurin Lydia Ziemke hat insgesamt drei Arbeiten aus diesem Pool ausgewählt und übersetzen lassen und noch einen ganz frischen Text bei der ägyptischen Theatermacherin Laila Soliman bestellt. Soliman ließ letzten Monat in Berlin anlässlich der Verleihung des Willy-Brandt-Preises für besonderen politischen Mut mit einer Dankesrede aufhorchen, in der sie die Doppelzüngigkeit der abendländischen Politiker angriff. Ihre Produktion wird Anfang nächsten Jahres gemeinsam mit einer Arbeit aus Marokko gezeigt.

■ Wieder am 6., 7., 10., 11., 20. bis 22. Dezember im Heimathafen