: Die Sehnsucht nach dem Skandal
PREMIERE Am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg dauert Frank Castorfs Inszenierung eines Theatereklats vom Anfang des letzten Jahrhunderts fünf lange Stunden
VON ALEXANDER KOHLMANN
Es gebe ein großes Interesse daran, dass er aufhöre, beschwerte sich Frank Castorf in einem Interview mit der Zeit in der vergangenen Woche, um gleich im nächsten Satz sein eigentliches Ärgernis zu formulieren. „Sie sind weder heiß noch kalt“ – die Berliner Kulturfunktionäre begegneten ihm, dem Revolutionär von einst, inzwischen mit freundlicher Gleichgültigkeit. Den Skandal um sein verbotenes Brecht-Abenteuer in München scheint der Regisseur dagegen sehr genossen zu haben, das Verbot der Aufführung sei etwas gewesen, wonach er sich seit den Zeiten der DDR gesehnt habe.
Die Sehnsucht nach dem Skandal, man muss sie mitdenken – und man kann sie auch erkennen bei dem, was in Hamburg bei der Premiere des neuen Castorf am vergangenen Freitag geschehen ist. Denn mit „Pastor Ephraim Magnus“ ist die Wahl auf eine scheinbar sichere Nummer gefallen. Bereits 1923 endete die Uraufführung des expressionistisch angehauchten Erstlings von Hans Henny Jahnn in einer wüsten Bühnenorgie, die heftige Ablehnung von Teilen des etablierten Bürgertums und der Medien provozierte.
Der alte Pastor Magnus, der an diesem Abend von Josef Ostendorf als fetter, dekadenter und durch und durch verdorbener Widerling mit Netzhemd über dem nackten Bauch gespielt wird, klagt vor seinem Tod, dass er nicht lebe. Ein verfaulter Haufen sei die Menschheit, trieblastig und schlecht. Eine bittere prämortale Erkenntnis, die vor allem seinen unehelichen Sohn Jakob (Samuel Weiss) in einen Sex-und-Crime-Rausch treibt, den Castorf mit allen Facetten in einem verschlungenen Gebäude zwischen Religiosität und Bürgerlichkeit ausspielen lässt.
Wie in einem Gespensterschloss zerfließen in Aleksandar Denis Bühnenbild die Bedeutungsebenen. Bürgerliches Selbstverständnis assoziieren gut bestückte Bücherregale und ein den ganzen Abend flackernder Kamin. Auf der Rückseite der Drehbühne dominieren Orgelpfeifen und der mächtige Pfeiler einer barocken Kathedrale das Bild. Von einer Kanzel kann gepredigt werden. Die ist über Laufstege und Dachterrassen erreichbar, die die ganze Installation zu einem in sich geschlossenen Abenteuerspielplatz verbinden. Ein Kamerateam überträgt Ton und Bild auf Leinwände, wenn die Schauspieler in dem verschachtelten Konstrukt gerade nicht zu sehen sind. So ist der Abend eine Mischung aus Theater und live inszeniertem Kino – alles wie immer bei Castorf eben. Wir erleben die gewohnten Versatzstücke einer Regiehandschrift, die einst revolutionäres Potenzial besaß. Und immer noch zu beeindrucken weiß – allerdings in ihrer kompletten Vorhersehbarkeit inzwischen auch anstrengend museal daherkommt.
Denn die Höllenfahrt des „Pastor Ephraim Magnus“ hat viel von ihrer gesellschaftlichen Sprengkraft verloren. Und Castorf unternimmt während der fünfstündigen Performance wenig, um uns vom Gegenteil zu überzeugen. Der Text bleibt zu einem großen Teil unangetastet. Wo eine klare Haltung, eine Kontrastierung mit Fremdtexten der letzten Jahrzehnte gerade bei diesem Regisseur zu erwarten gewesen wäre, inszeniert der Mann über weite Strecken eins zu eins vom Blatt. Jede Klage etwaiger Jahnn-Erben, bei dieser seltsam werktreuen Inszenierung wäre sie von Vornherein aussichtslos.
Da wird brav gehurt und gemordet. Frauen mit blonden Perücken und Lackkostümen erinnern an Quentin Tarantino und David Lynch, an die Avantgarde von gestern also. Und Castorf wäre nicht Castorf, wenn er seiner Erzählung nicht mindestens eine epochale Bedeutung zuschreiben würde. Bald schon flimmern die Soldaten des Ersten Weltkriegs als rot triefende Fleischmonster über die Leinwände. Der verirrte Jakob tritt mit Hakenkreuz-Emblem und Hitler-Duktus auf, bevor er als eine Art moderner Jack the Ripper mit einem scharfen Messer auf der Leinwand durch das Hamburg der Gegenwart irrt.
Es ist nicht so, dass einem die triebhaften Zusammenhänge dieser pervertierten Version eines Gesellschaftsdramas nicht einleuchten wollen, allein, das alles erscheint so vordergründig und banal, dass es den visuellen Zauber inhaltlich nicht rechtfertigen kann. Der eigentliche Skandal werde sein, dass er am Schauspielhaus dieses Stück in einer Länge von über fünf Stunden zeigen werde, kokettierte Frank Castorf einige Tage vor der Premiere in besagtem Interview. Und verkannte dabei, dass krasse Bilder nicht gleich einen Skandal bedeuten und dass Längen und Langeweile nicht immer zum ersehnten Buh-Konzert führen. Denn die Revolution von gestern ist heute ein Teil der Theatergeschichte. Das gilt für beide, Hans Henny Jahnn und Frank Castorf.