Der Klassen-Transvestit

MASKE Walter Kirn war jahrelang mit einem Rockefeller befreundet – bis der sich als Betrüger herausstellte und als Mörder angeklagt wurde. Ein Interview mit dem US-Autor über „Blut will reden“, sein Buch über Täuschung

VON TIM CASPAR BOEHME

Bestimmte Angebote kann man einfach nicht ausschlagen. Angenommen, ein reicher Exzentriker aus der Familie der Rockefellers möchte einen Hund adoptieren. Dieser Gordon Setter muss jedoch, weil er nach einem Unfall verkrüppelt ist und sich nur noch im „Rollstuhl“ bewegen kann, mit dem Auto überführt werden – und zwar quer durch die USA, von Montana bis nach New York. Wer könnte sich einer solchen Bitte schon verweigern?

Job als Hundechauffeur

Nüchtern betrachtet, würden die meisten Leute wohl freundlich abwinken. Nicht so Walter Kirn. Der Schriftsteller witterte bei dem Auftrag, den ihm Bekannte vermittelt hatten, eine neue Geschichte. Er war zudem fasziniert von der Möglichkeit, einen Angehörigen der höchsten Elite der USA näher kennenzulernen, und sagte zu. Ökonomisch war der Job als Hundechauffeur zwar ein Reinfall, doch aus der Begegnung mit Clark Rockefeller, dem rätselhaften „freiberuflichen Notenbanker“, wie er sich nannte, sollte für Kirn eine Freundschaft entstehen, die von 1998 bis 2013 dauerte.

Seinen Plan, ein Buch über Rockefeller zu schreiben, hatte Kirn während dieser Zeit eigentlich aufgegeben. „Ich dachte, ich würde sonst einen Freund verraten“, sagt der leicht nervös wirkende US-Amerikaner beim Interview in Berlin. Die Umstände des Endes der Freundschaft ließen ihn aber noch einmal umdenken. Dieser Clark Rockefeller stand nämlich plötzlich wegen mehrfachen Mordes vor Gericht.

Nur war er angeklagt als Christian Gerhartsreiter, ein Immigrant aus Bayern, der zuvor unter verschiedenen Namen diverse Identitäten ausprobiert hatte. Als Kirn von dieser Enttarnung erfuhr, erlitt er ein Trauma: „Die Welt stand kopf. Mit einem Mal verlor ich das Vertrauen in andere Leute und meine eigene Urteilskraft. Und ich bekam Angst, als mir bewusst wurde, dass ich so viel Zeit mit ihm verbracht hatte. Er war ja nicht bloß ein Mörder, sondern hat seine Opfer auch noch zerstückelt, er war wirklich ein Ungeheuer. Es war, als hätte jemand einen Vorhang heruntergerissen, hinter dem die Welt ganz anders war.“ Diese Desillusionierung war für Kirn eines der Hauptmotive, ein Buch zu schreiben. Mit „Blut will reden“ hat er dann allerdings keinen Roman verfasst, sondern im Stile eines Bekenntnisses versucht zu beschreiben, wie er sich so hatte täuschen lassen können.

Gerhartsreiter hatte nicht nur Kirns Glauben an eine unwahrscheinliche Freundschaft zerstört, sondern auch eine Schwäche des Autors ausgenutzt: Kirn, der selbst aus einfachen Verhältnissen stammt und seiner Begabung wegen Stipendien erhalten hatte, um in Princeton und Oxford zu studieren, war seit jeher von der Oberschicht fasziniert, zu der er eine Art Hassliebe pflegte: „Ich fühlte mich von ihnen abgewiesen, als unbedeutend behandelt, ja schmutzig. Das hat sich mir eingeprägt.“ Als Rockefeller scheinbar sein Freund wurde, fühlte sich Kirn von genau den Leuten akzeptiert, die ihn im Studium herablassend behandelt hatten. Was sich als doppelter Irrtum herausstellen sollte. Nicht nur war Rockefeller nicht wirklich ein Mitglied der Oberschicht, sondern hatte als Undercover-Aufsteiger selbst ein spezielles Verhältnis zu dieser Klasse: „Wenn meine Faszination für die Oberschicht neurotisch war, dann hatte er eine psychotische Faszination für sie. Wir waren beide Leute mit schrecklichen Minderwertigkeitskomplexen. Bei ihm waren sie so stark, dass er sich eine neue Identität zulegte.“ Mit dieser Identität simulierte Clark Rockefeller, er sei in direktem Kontakt zu den Mächtigen der Erde: „Er gab vor, Helmut Kohl und andere Weltpolitiker zu kennen. Er tat so, als wäre er mit George Bush bekannt. Ich fühlte mich wie im inneren Geheimtempel der Macht.“

Kirn fühlte sich vor allem seiner eigenen Verstrickung wegen von Rockefeller alias Gerhartsreiter düpiert: „Wenn man von jemand anderem manipuliert wird, ist man sein Komplize. Der andere lebt von deiner eigenen Schwäche und Bestechlichkeit. Er wusste, dass ich unsicher war und mich gern bedeutender fühlen sollte. Er ahnte wohl, dass ich von Geld fasziniert war. Er wusste eine Menge über mich, dessen ich mir überhaupt nicht bewusst war, kannte meine Schwächen. Er war in gewisser Weise wie ein Psychoanalytiker.“

Ein Drink im Lotus Club

In Rockefellers Gegenwart konnte Kirn an dessen Arroganz und Überlegenheitsgefühl teilhaben, etwa wenn sie sich im exklusiven New Yorker Lotus Club einen Drink genehmigten, ein Ort, zu dem Kirn ohne Rockefellers Begleitung nicht einmal Zutritt gehabt hätte. Kirn bekam durch Rockefeller das Gefühl, in eine andere Klasse aufgenommen worden zu sein. Dabei hatte er zuvor schon durch eine Freundin flüchtigen Kontakt zu den Kennedys gehabt und als Student in Oxford Umgang mit Prinzessin Dianas Brother Charles Spencer of Althorp gepflegt.

„Das Interessante ist: Sie alle waren bei Weitem nicht so beeindruckend wie dieser falsche Rockefeller. Sie waren recht gewöhnlich. Er war beeindruckend, weil er ein Cartoon war. Er übertrieb all die Charakteristika der Oberschicht. Es ist wie bei einem Transvestiten, der mit seinem exaltierten Verhalten manchmal femininer als eine Frau ist. Rockefeller war wie ein Klassen-Transvestit.“ Eine ironische Pointe ist es, dass Kirn tatsächlich schon mal Umgang mit einem „richtigen“ Mitglied der Familie hatte: „In Princeton – das habe ich nicht ins Buch aufgenommen – kannte ich einen Rockefeller. Er hatte einen anderen Nachnamen, weil er aus einem anderen Zweig der Familie stammte. Wir waren zusammen in einer Theatergruppe, und er behandelte mich ganz furchtbar.“ Als er dem „anderen Rockefeller“ begegnete, kam es ihm wie eine Wiedergutmachung vor.

Eine Langzeittäuschung, die für Kirn auch eine gesellschaftliche Relevanz hat: „Ich habe dieses Buch geschrieben, um die Leute skeptischer zu machen gegenüber charismatischen Menschen – Führern, Politikern, Unternehmern. Für mich ist die Weltgeschichte die Geschichte von Menschen, die anderen Personen ihr Vertrauen schenken und damit zu schrecklichen Dingen verleitet oder schlicht getäuscht werden. Doch du kannst nicht getäuscht werden, solange du dich nicht selbst täuschst. Darum geht es in diesem Buch.“

■ Walter Kirn: „Blut will reden. Eine wahre Geschichte von Mord und Maskerade“. Aus dem Amerikanischen von Conny Lösch. C. H. Beck Verlag, München 2014, 288 Seiten, 19,95 Euro