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Archiv-Artikel

Jeder sprengt sich weg

Die Gewalt auf der Hamburger Reeperbahn ist zum Wahlkampfschlager geworden. Jetzt hat die Stadt ein Waffenverbot verhängt, das Saufen im Freien soll als nächstes geächtet werden. Für viele Jugendliche gehört das „Vorglühen“ dazu

VON THOMAS EWALD

Samstag, 22 Uhr, auf der Reeperbahn. Eine Menschentraube aus Jugendlichen steht vor einer Spielhalle und lässt sich an einer Art Hau-den-Lukas aus. Bei dieser Variante des Spiels muss man mit dem Ellenbogen auf einen mit Leder überzogenen Knauf hauen. Bodycheck.

Nicht weit von hier wurde Nico Frommann zum Sinnbild für die Gewalt auf dem Kiez. Drei Jungen schnitten dem 19-Jährigen den Nacken und Hals mit einer Klinge auf, schlugen seinem Begleiter eine Bierflasche über den Schädel. Die Hamburger Morgenpost zeigte Nico Frommann mit seiner frisch genähten, zehn Zentimeter langen Narbe und seinem Vater, der ihm die Hand auf die Schulter legte. Der Vater ist Bezirksamtsleiter, also so was wie der Bürgermeister des Bezirks Hamburg-Nord, und er ist in der SPD. Wenige Tage später klagte er den CDU-Senat an, die Jugendgewalt nicht in den Griff zu bekommen. Es ist Wahlkampf in Hamburg, und der CDU-Senat verhängte vor einem Monat ein Waffenverbot für St. Pauli. Ein Verbot des öffentlichen Alkoholgenusses soll folgen.

Vor der Boutique Bizarre schüttelt ein Sicherheitsmann den Kopf. „Guck dir das mal an! Nur Krawallmacher“, sagt der rothaarige, vollbärtige Mann und zieht seine Brille aus der Brusttasche. Er prüft den Ausweis eines Mädchens, das vor kurzem 18 Jahre alt wurde. „Die sind hier alle so jung, da muss ich vor Dienstantritt immer in den Kalender schauen, um zu wissen wer 18 ist“, sagt er. Ein Junge mit dicker Lederjacke tritt eine Bierflasche gegen die Wand. Sie zerspringt. Der Sicherheitsmann seufzt, der Kiez sei nicht mehr das, was er vor 20 Jahren war.

Auf der anderen Seite der Reeperbahn liegt die 24-Stunden-Tankstelle. Eine beliebte Adresse, um sich mit Alkohol zum „Vorglühen“ einzudecken. Dann muss man hinterher im Club nicht mehr so viel Geld ausgeben. Drei junge Männer Anfang 20 kommen aus der Tankstelle und ploppen mit einem Feuerzeug die Kronkorken von ihren Bierflaschen. Es sei schon stressig geworden auf dem Kiez, sagt einer der drei. Aber: „Wo sonst hat man einen Laden neben dem anderen?“

Ein paar Meter weiter, hinter den Zapfsäulen, stehen sechs Jungen und trinken Wodka mit einem aufputschenden Energydrink. Sie mischen sich den Mix in weißen Pappbechern, die es im Laden kostenlos gibt. Einer hat und einen Bart, wie Kevin Kuranyi: dunkle feine Striche an Kinn und Oberlippe. „Ja, is’ mir doch egal, ob ich draußen oder drinnen trinken muss. Wegsprengen werd ich mich am Wochenende sowieso.“ Trinkverbot hin oder her.

Ein wenig aufdringlich wollen drei Frauen kleine Fläschchen mit synthetisch riechenden Schnäpsen verkaufen. Sie feiern die Scheidung von Nicole. Mindestens einmal im Monat kommen sie aus Geesthacht, um auf der Meile Party zu machen, auch ohne Anlass. „Das braucht jeder. Einen trinken und dann tanzen. Hier ist immer gute Stimmung.“ Stolz tragen sie T-Shirts mit der Aufschrift „KIEZMIEZEN“.

Gegen halb drei Uhr morgens kippt die Stimmung langsam. Auf dem Hans-Albers-Platz haben sich zwei Jungs auf einem Stromkasten eine Bar eingerichtet: Limonade, Energydrink und Wodka, daneben ein Stapel Pappbecher. „Hier ist es immer geil. Passiert immer was“, lallt einer der Stromkastenbarbesitzer und zeigt mit der Hand auf ein Dutzend Polizisten. Sie rennen vorbei an der Hans-Albers-Statue Richtung Silbersackstraße. An einem betonierten Sportplatz schauen sie ratlos ins Dunkel. Polizisten im Großaufgebot kontrollieren immer wieder Gruppen junger Leute. Das Schema: dunkle Typen, kurzhaarig, breiter Gang. Doch die Kamerateams von RTL, NDR und HH 1 warten an diesem Abend vergeblich auf Gewalttaten.

„Wer jetzt noch auf der Reeperbahn unterwegs ist, muss sich wieder runterfressen.“ So sagt es einer, der in der Schlange bei McDonald’s steht. Die ehemals aufgetakelten Partygänger kleckern sich Soße auf Schuhe, Hose und Hemd. Die Verpackung landet auf der Straße.

In der Meanie Bar ist die Stimmung dagegen gediegen. Das Interieur ist eine Kreuzung aus Siebziger-Jahre-Partykeller und deutschem Vorgarten mit Jägerzaun. Ein Projektor wirft Videoclips und Liveauftritte von Rockbands an die Wand. Für Besitzer Andi Schmidt ist der Spielbudenplatz das beste Beispiel dafür, was man auf St. Pauli falsch gemacht hat. „Die Ballermannisierung auf dem Kiez und dann noch die Discounter, die versauen die ganze Reeperbahn. Da braucht man sich nicht zu wundern wenn man Probleme mit Gewalt hat“, echauffiert sich der Gastwirt.

Die Bierregale in der Tankstelle sind um 4 Uhr leer. Am anderen Ende der Reeperbahn schiebt sich eine Menschenmenge an den Imbissen und Kiosken vorbei. Viele haben Probleme, die Beine unter den Rumpf zu kriegen. Jemand tippt einem Mädchen auf die Wange. Er kennt sie nicht, findet es aber witzig, wie sie sich aufregt. Die Atmosphäre ist für einen kurzen Augenblick gespannt, bis zwei junge Männer ihn zur Seite nehmen und ihre Arme auf seine Schultern legen. Die Beiden reden auf ihn ein: „Ey, was soll das denn, Alter?“ Es komme nicht wieder vor, sagt er, und alle gehen ihrer Wege.

Gegen sechs Uhr schieben ein paar Flaschensammler Einkaufswagen voller Pfandflaschen vor sich her. Die Große Freiheit ist von einem weißen Brei bedeckt, in dem Essensreste schwimmen. In der S-Bahn Station lehnen die Betrunkenen mit dem Rücken an Plakatwänden.

Die Gesichter sehen zerflossen aus. Viele sind weggesprengt und werden am nächsten Tag nicht mehr wissen, was auf dem Kiez so toll war– bis sie es am nächsten Wochenende wieder herausfinden werden.