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Archiv-Artikel

Abschied von der Gegeninstanz

ÜBERFIGUR In der Berliner Akademie der Künste nahmen Weggefährten und Freunde von Christa Wolf nicht nur Abschied von der Person, sondern auch von einem gesellschaftlichen Modell des Autors. Nur Günter Grass fiel mit einem infamen Polterauftritt aus der Rolle

In solchen Momenten schien die Vorstellung auf, dass Literatur per se für das Gute im Menschen steht

VON DIRK KNIPPHALS

Als Letzter trat der Witwer ans Pult. Gerhard Wolf, weißhaarig, in sich zusammengesunken, aber auch pflichtgemäß gefasst, sagte den Satz: „Ich möchte allen Freunden danken, die heute Abend hier gesprochen haben.“ Er sagte das sehr schnell und in einem Rutsch, als könne das kleinste Stocken ihn hindern, den Satz überhaupt herauszubringen. Dann las er, hinter der großen Figur der Frau, mit der er 60 Jahre lang verheiratet gewesen war, zurücktretend, aus dem Schluss von Christa Wolfs letztem Roman „Stadt der Engel“ vor. Und die allerletzten Momente sollten der großen Verstorbenen ganz gehören. Vom Band hörte man sie dann selbst aus der „Stadt der Engel“ lesen – die Szene, in der sie auf Los Angeles zufliegt, in großem Bogen über die Küstenlinie von Malibu. Es war rührend, noch einmal zu hören, dass sie gern geflogen ist.

Die Gedenkveranstaltung für Christa Wolf, die am Dienstagabend in der Berliner Akademie der Künste, zu deren bedeutendsten Mitgliedern sie zählte, stattfand, spiegelte noch einmal einen besonderen Aspekt dieses Lebens: Wie privat wirkte die Veranstaltung über weite Strecken – Freunde, Weggefährten, Kollegen legten, jeder auf seine Art, Zeugnis darüber ab, wie bedeutend die Verstorbene war –, aber das vor großem Publikum. Die Veranstaltung war kostenlos, und dennoch mussten Eintrittskarten vergeben werden, um den Andrang zu kontrollieren. Innerhalb von 15 Minuten waren die 700 Karten weg.

Es ist leider absehbar, dass von dieser Veranstaltung im medialen Echo nun vor allem eins bleiben wird: Günter Grass’ Invektive gegen Ulrich Greiner und Frank Schirrmacher. Der Nobelpreisträger hielt es für eine gute Idee, ausgerechnet diese Stunden des Gedenkens dazu zu benutzen, alte Rechnungen wieder aufzumachen. Aber bevor man darauf kommt, ist es gut, noch einmal darüber nachzudenken, wovon hier an diesem Abend eigentlich Abschied genommen wurde. Je länger man den Vortragenden zuhörte, desto klarer wurde es, dass die Trauer und Betroffenheit nicht nur dieser besonderen Frau galten.

Berlins Bürgermeister Klaus Wowereit berichtete von seiner Jugendlektüre als 15-Jähriger in Westberlin: „Der geteilte Himmel“. Friedrich Schorlemmer erzählte von seiner Aufregung, als er der schon längst berühmten Christa Wolf in den Siebzigern zum ersten Mal begegenete. Daniela Dahn ließ den Literaturzirkel wiederauferstehen, den Gerhard und Christa Wolf in den Sechzigern in Kleinmachnow, wo ihr Sommerhaus steht, gaben: fünf, sechs Schüler, die, mit Tee und Gebäck bewirtet, Kafka, Seghers, Camus lasen. Die Bühnenverlegerin Maria Sommer erzählte, wie sie tatsächlich einmal die Vorstellung hatte, nur von einem Gespräch mit Christa Wolf gesund geworden zu sein. Und Christoph Hein berichtete von der Bewunderung, die Christa Wolf entgegenbracht wurde – überall, wo sie auftauchte, gab es Gedränge – und auch von ihrer besten Waffe gegen diese Verehrung: ein kleines „na ja“, das im Gespräch alle Starverherrlichung herunterdimmte.

In solchen Momenten schien in der Veranstaltung die Vorstellung auf, dass Literatur per se und in vollem Ernst für das Gute im Menschen steht. Ohne es direkt auszusprechen, wurde so auch Abschied genommen von der Gegeninstanz, die Christa Wolf unter den besonderen Bedingungen des 20. Jahrhunderts beinahe zeitlebens verkörperte – von der Literatur als Einspruchsinstanz gegen die Geteiltheit und Unvernunft der Welt. So viele Buchpreise nachgeborene Schriftsteller auch produzieren werden, solche gerade in ihrer Verletzlichkeit heldischen Autorenfiguren wie Christa Wolf wird es nicht mehr geben.

Man kann das einfach konstatieren. Man kann auch erwähnen, dass das Nichtmehrglauben an neue literarische Überfiguren auch positive Seiten hat – weil ihre medialen Bedingungen auf vordemokratischen Zuständen fußen, die überwunden zu haben gut ist. Aber wie tief dieser Abschied geht, wie sehr unsere Gesellschaft immer noch von Jahrhunderten der literarischen Sozialisation tief durchtränkt ist, das merkte man dann eben manchen Momenten der Veranstaltung an. Vor allen den Momenten, in denen die Vortragenden nicht schon große Worte hatten, sondern erst nach ihnen und den passenden Haltungen suchen mussten, um der Bedeutung dieses Augenblicks gerecht zu werden.

Und als Ingo Schulze und Katja Lange-Müller sprachen, war auch spürbar, dass der Abschied von solchen Figuren wie Christa Wolf keinswegs den Abschied von der Literatur überhaupt bedeutet. Christa Wolfs Credo aus ihrem Buch „Kassandra“ – „Mit meiner Stimme sprechen: das Äußerste. Mehr, andres habe ich nicht gewollt“ – ist ja nicht schon deshalb obsolet, weil sich die Rezeptionsmechanismen der Literatur geändert haben.

Dann kam Günter Grass. Als vorletzter Sprecher, direkt vor Gerhard Wolf, wälzte er, mit Verlaub, alle Sub- und Nebentöne nieder. Im Grunde war der Auftritt des Nobelpreisträgers infam. Nicht weil er auf den Literaturstreit der frühen Neunziger zurückkam, der Christa Wolf tief geschmerzt hat. Sondern in der Art, wie er es tat, und in dem Anlass, den Grass sich aussuchte.

Er drehte mächtig auf. Grass sprach von „Wortschwall“ und „Hinrichtung“, von „Niedertracht“ und „Vernichtungswillen“ der Literaturkritik Christa Wolf gegenüber. Und den damaligen FAZ-Literaturchef Frank Schirrmacher sowie den damaligen Zeit-Feuilletonchef Ulrich Greiner forderte er auf, sich öffentlich zu entschuldigen.

Das Infame daran: Am Tag der Beerdigung von Christa Wolf steht man selbst mit dem vorsichtigsten Differenzierungswillen hilflos da, diskutieren kann da keiner. Es sei dennoch ausdrücklich hingeschrieben: Selbstverständlich musste in den neunziger Jahren Christa Wolfs Rolle als Schriftstellerin in der DDR reflektiert werden; was nun allerdings auch nicht die Häme entschuldigt, mit der das damals (aber nicht von Schirrmacher und Greiner!) begleitet wurde.

Noch etwas schreibt man in dieser eher auf Melancholie gestimmten Situation nicht gern, aber man muss es schreiben: Dieser Polterauftritt von Günter Grass wirkte auch der eigentlichen Hauptfigur des Abends gegenüber unangemessen. Journalistenbashing mag immer gehen, aber: So unliterarisch, so wenig auf ihr Werk Bezug nehmend verabschiedet sich doch kein bedeutender Schriftsteller von einer bedeutenden Schrifstellerin!