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Archiv-Artikel

Nicole Hackert, lass mich bei dir wohnen!

Das Art Critics Orchestra gab ein Weihnachtskonzert im Neuen Berliner Kunstverein, um seine neue Platte „Artists’ Songs“ vorzustellen. Brechtianisches Musiktheater traf auf Punk, und das machte auch die Kleinsten glücklich

Mitten im Jugendzentrum steht ein kleines Mädchen in rotem Pullover und Kniebundhosen und schaut mit großen Augen. Ist das Faszination oder wundert sich da jemand einfach nur? Wenig später, an fast derselben Stelle, wieder ein Mädchen, diesmal im Kleid, hält sich die Ohren. Sie bleiben zu, zwei Stunden lang. Das aber will nichts weiter heißen, als dass so kleine Ohren sind, die vor Lärm geschützt werden wollen. Das Konzert ist nämlich lauter geworden als gedacht, es sollte halbakustisch werden, in Richtung Violent Femmes, war vorab zu hören.

Das Jugendzentrum ist in Wirklichkeit gar keins, sondern es handelt sich um die Räumlichkeiten des Neuen Berliner Kunstvereins in der Chausseestraße, der sich aber am Mittwoch in eine Art Wurmloch verwandelt hat, wo plötzlich alles anders ist als sonst, ganz utopisch. Das Art Critics Orchestra, eingeladen vom Video-Forum des NBK, fängt sein Konzert mit „Avanti Popolo“ an, um dann umstandslos eine überaus charmante Version von „Die letzte Schlacht gewinnen wir“ zu geben.

AC/DC oder Histrionics?

Im nächsten Stück geht es um Standortfaktoren und chinesische Fabriken. Sängerin Agnes Wegner in roten Hosen und Kapuzenpulli singt und tanzt, dass man sich nicht mehr sicher sein kann, ob das jetzt abseitige Anachronismen der Achtziger zwischen Ari Up und Nena sind, die hier wiederaufgeführt werden, oder der verwegene Stil von DDR-Rockfrauen kurz nach dem Schwarzen Kanal oder irgendetwas unfassbar anderes. Man kann die kleinen Mädchen gut verstehen, eure Augen sind mein Spiegel.

Die besten Konzerte sind die, bei denen man sich die Ohren reibt, zweimal hinschaut und sich trotzdem weiter wundert. Beim Versuch der nüchternen Beobachtung kann aber immerhin Folgendes festgestellt werden: Das Publikum hat sich in ungefähr doppelter Schulklassengröße eingefunden, und ACO stellen ihre neue Platte vor. Das Orchester besteht aus Kunstkritikern und anderem Personal des Betriebs, das für die „Artists’ Songs“ Stücke, Spielanweisungen und vor allem Texte bei Künstlern in Auftrag gegeben hat. Prompt geliefert haben Karin Sander, Elke Krystufek, Carsten Nicolai oder Gerwald Rockenschaub. Die Vertonungen der offiziell erst im März erhältlichen, hier exklusiv vorab verkauften „Artists’ Songs“ klingen auf CD nach AC/DC, nach falschem Metal und Punk und live nach der Coney Island Circus Band, wie ein vom Klo kommender Mann behauptet. Gespielt wird da gerade „Schaukel mich in dem Schoß von Gagoschian“ von Elke Krystufek, ein Meisterwerk des Cut & Paste, in dem nicht nur „Red Wine“ und „Ein bisschen Frieden“ vorkommen, sondern auch Kunsthändler und -händlerinnen: Nicole Hackert, lass mich bei dir wohnen!

Das Art Critics Orchestra kann man sich als hyperintelligente Version der Kunstbetriebscombo Histrionics vorstellen, die durch ihr Werk „Never Mind the Pollocks“ bekannt geworden ist. Das Art Critics Orchestra verhält sich dabei zu den Histrionics wie Queen zu Slade. Wenn man noch etwas insidermäßiger daherreden wollen würde, könnte man sagen, dass hier Red Crayolas „Kangaroo?“ eine Südtangente an „Sandinista“ legt, womöglich aber auch umgekehrt. Großes Brechtianisches Musiktheater ist’s in jedem Fall.

Abstrakt und unbefriedigend bleiben solche Spekulationen allerdings schon deswegen, weil das Verweissystem von ACO dermaßen sinnlos vollgeladen ist, dass man mit Freuden vor diesem durchdacht-barocken, sympathisch-hobbyistischen Eklektizismus kapituliert und sich davontragen lässt. Raimar Stange spielt mit Slavoj-Žižek-Bartfrisur stoisch den Bass, Laura Oldenbourg bedient minimalistisch eine elektrisch betriebene und mit Fußpedal in Gang gesetzte Orgel sowie ein Kinderxylofon, Andreas Schlaegel haut sich anfangs schon die Besen kaputt, muss also doch mit Stöcken spielen und singt zwischendrin, dito Micz Flor, der die Akustikgitarre schlägt.

Vor ihnen turnt geschmeidig Frau Wegner mit Lipgloss und Glitterzeugs auf den Wangen herum, haut ihrerseits irgendwann ihr Wasserglas kaputt und verbreitet gute Laune. Peter Hein liest zwischendurch aus seinem ersten Buch und stellt sich am Ende zu „People Have the Power“ ans Mikro, because the people had their ear. Candice Breitz, die das Cover zur CD gebastelt hat, steht in der ersten Reihe und lacht. Das kleine Mädchen macht die Ohren wieder auf. In zwanzig Jahren kann es sagen: Ich bin da gewesen. ULRICH GUTMAIR