piwik no script img

Archiv-Artikel

Lateinische Dispute am Nachbartisch

betr.: „Die Vermessung der Weltsprache“, taz vom 10. 12. 07

Wenn auf der Autobahn massenhaft Autos von vorne kommen, kann es natürlich sein, dass gerade reichlich Geisterfahrer unterwegs sind. Man sollte aber auch nicht ganz ausschließen, dass etwas mit der eigenen Richtung nicht stimmt. Ähnlich verhält es sich mit der „absoluten Spitzenstellung“ Deutschlands beim Latein, dem „Phänomen“, dass nirgendwo in Europa der Lateinunterricht einen solchen Stellenwert hat und die Zahl der Lateinschüler wieder steigt.

Der jetzt sogar in der taz bejubelte Lateinboom bleibt in der Welt außerhalb der Schule merkwürdig verborgen. Lesen Ihre Nachbarn im Zug oft Ovid oder Vergil im Original? Werden die Volkshochschulen überrannt von Bildungshungrigen, die Lateinkurse belegen wollen? Hören Sie im Café am Nachbartisch häufig lateinische Dispute? Eben. Die Begeisterung für Latein beschränkt sich vorwiegend darauf, Kinder und Jugendliche über Jahre in den Lateinunterricht zu schicken, Zeiten, in denen stattdessen auch Fähigkeiten zur Kommunikation mit lebendigen Menschen vermittelt werden könnten.

Die teils sehr hergesuchten Beispiele in der taz, die die rasende Aktualität von Cäsar, Cicero und Co. belegen sollen, erklären nicht, warum es nötig ist, Latein zu lernen. Versteht „Krieg und Frieden“ nur, wer Russisch, das „Kommunistische Manifest“ nur, wer Deutsch kann? Natürlich hatte Luther für seine Zeit recht, als er vor einem Verlust der altsprachlichen Bildung warnte. Latein als damalige internationale Gelehrtensprache stand für den geistigen Austausch über Grenzen hinweg und die Emanzipation vom Weltdeutungsmonopol der katholischen Kirche. Aber die Erde hat sich in den letzten 500 Jahren weitergedreht. GEORG WILHELM, Hannover