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Archiv-Artikel

Berliner Platten Zu lange Plattennamen, um sie auf echte Tonträger zu drucken

Das Ende der CD schien ausgerufen, als Radiohead im Oktober ihr neues Album als Download zum Selbsteinschätzungspreis veröffentlichten. Ein Paukenschlag als Abgesang auf die Industrie, sagten die einen; eine gelungene Positionierung am Markt, sagten die anderen. Die Mitglieder von I Might Be Wrong, deren Name von einer Radiohead-EP von 2001 stammt, gehören mit Anfang-Mitte zwanzig zur letzten Generation, die ein nostalgisches Verhältnis zum physischen Tonträger hat. Sie gehören zu denen, die sich „In Rainbows“ als teures Vinyl/CD-Boxset gekauft haben. Ihr Debüt kommt in einem aufwändig gestalteten Faltkarton daher, der sich gut anfühlt. „It Tends To Flow From High To Low“ ist ausgefeilter Indiepop mit melancholischer Note. Über einem Meer von punktuellen Gitarren, Schlagzeug, Elektronik, manchmal Streichern und Orgel singt die zerbrechlich-nachdrückliche Stimme von Lisa von Billerbeck von Zweifeln und verlorenen Momenten. So klingt eine traurige Sommerplatte, oder eine wärmende Winterplatte, bei der man sich genauso aufgehoben wie verstanden fühlen kann.

Bassist Andreas Bonkowski ist außerdem Kopf der Band Siva, zuletzt mit Portugal The Man auf Tour, und ihr Debüt ist die einzige Platte in dieser Besprechung, die tatsächlich streckenweise nach Radiohead klingt. Über ein halbes Jahr wurden Spuren über Spuren gelegt, bis fast opulente Klanggebäude aus Gitarren, ungehörten Akkordfolgen und einer thronenden Stimme entstanden. „The Story Is Complete, But I Think We‘ve Lost The Book“ ist ein groß angelegtes und detailverliebtes Album, auf dem es immer wieder etwas Neues zu entdecken gibt.

Nebenbei: Was sich Radiohead leisten können, nämlich die Leute bezahlen zu lassen, was sie wollen, ist für viele Bands ein unzulängliches Modell. Wer von der Musik den Lebensunterhalt bestreiten will, macht wie Andreas Bonkowski Remixe und Studioarbeit – und die Musik aus Leidenschaft. Z.B. auch als Gast bei SDNMT, ehemals Seidenmatt, die zum dritten Album „The Goal Is To Make The Animals Happy“ ihr Quartett um ein-zwei Gitarren und ein Cello erweitert haben. Ihr Postrock – vertrackte Rhythmen, kaum Gesang, elektronische Flächen, Gitarrenschichten – wird seit neuestem veredelt von hymnischen Chören. Wo früher Mogwai und Tortoise zur Seite standen, entwickeln die überraschenden Headliner des diesjährigen Immergut-Festivals schillernde Querschläger, mitreißende Rockismen und Bögen im eigenen Kosmos. Die CD haben sie quasi selbst herausgebracht, bei Sinnbus. Seit Jahren sind SDNMT wichtiger Bestandteil dieses in Karlshorst gestarteten Bandzusammenhangs, zu dem etwa auch Kate Mosh, Bodi Bill, Kam:as und Ampl:tude gehören, der sich nach vielen besonderen Konzerten und Festivals in einer Bookingagentur und eben auch einem Label manifestiert hat. Ohne Rücksicht auf Verluste werden dort Platten um Platten herausgebracht, die von Design, Material und Inhalt kleine Kunstwerke sind. Wie auch diese hier – zum In-den-Händen-Halten, und Festhalten. Peer Göbel

I Might Be Wrong: „It Tends To Flow From High To Low“ (Sinnbus/alive!)

Siva: „The Story Is Complete, But I Think We‘ve Lost The Book“ (DevilDuck/Indigo)

SDNMT: „The Goal Is To Make The Animals Happy“ (Sinnbus/alive!)