: „Dieser Ort ist kurz davor, zu kippen“
ADVENT Der Fotograf Julian Röder hat für die taz Szenen am Kottbusser Tor festgehalten: „Aufscheinende Eindrücke“ von einem urbanen Raum, wo sich das Raue und das Szenige gerade noch die Waage halten
■ Wurde 1981 in Erfurt geboren und wuchs in Berlin auf. Er war der einzige Lehrling, den die 1990 gegründete Fotografenagentur Ostkreuz jemals hatte. Anschließend studierte Röder Fotografie in Leipzig und Hamburg. Im Jahr 2004 wurde er als Mitglied bei Ostkreuz aufgenommen.
■ Seit 2001 arbeitet Julian Röder an dem Langzeitprojekt „The summits“, mit dem er die Proteste gegen politische Gipfeltreffen dokumentiert. Eine Auswahl dieser Fotografien ist noch bis 3. Februar in der Guardini Galerie, Askanischer Platz 4, 10963 Berlin zu sehen.
■ Weitere Informationen unter: www.julianroeder.com.
INTERVIEW BERT SCHULZ
taz: Herr Röder, Sie haben für die taz Berlin im Dezember am Kottbusser Tor fotografiert – „einmal rund um die Uhr“. Was für ein Ort ist der Kotti?
Julian Röder: Ein Ort, über den die meisten Menschen eher rüberrennen. Kaum jemand verweilt hier. Viele Berliner finden den Kotti als Ort ja sehr spannend. Aber meistens wird er doch nur als Umsteigepunkt genutzt, von dem man dann ganz schnell wieder weg ist.
Hat dieser Ort eine besondere Atmosphäre?
Es gibt ganz unterschiedliche Perspektiven, aus denen heraus man ihn erfassen kann: Die Frisöre, mit denen ich gesprochen habe, meinten: Kreuzberg ist die Mitte von Berlin, und das Herz von Kreuzberg ist der Kotti. Hier mache jeder Business, jeder verdiene Geld. Aber am Kotti könne man alles machen. Die Junkies haben da sicher eine andere Perspektive.
Man kann den Kotti also nicht fassen, zumindest nicht in 24 Stunden beziehungsweise Bildern?
Vielleicht in ein paar hundert Bildern … 24 Stunden sind definitiv zu kurz.
Sie wohnen selbst in Kreuzberg und kannten auch das Kottbusser Tor schon, zumindest ein wenig. Was haben Sie im Vorfeld von diesem Fotoauftrag erwartet?
Ich dachte erst: „Na ja, Kotti, da haben sich ja schon einige dran abgearbeitet.“ Der Ort kommt ja in den Medien durchaus vor, und das hat man auch gemerkt, als ich da unterwegs war: Viele Leute sind nicht das erste Mal gefragt worden, ob man sie fotografieren darf. Zum Beispiel Annie, die Frau von der Imbissbude, dieser kleinen, süßen Currywurstbude gegenüber der Sparkasse – die war total nett, aber sie wollte überhaupt nicht fotografiert werden. Die hatte da keine Lust mehr drauf. Für mich persönlich war der Auftrag aber auch mit Erinnerungen an meine Kindheit verbunden, weil ich kurz nach der Wende auf die Waldorfschule am Moritzplatz, ganz nah an der Mauer, gegangen bin. Damals war der Kotti für mich ein abenteuerliches Gebiet – in das man sich als Kind nur mit großer Scheu hingetraut hat.
Hatten Sie auch diesmal Angst? Schließlich waren Sie auch mitten in der Nacht unterwegs.
Nein. Eigentlich nicht. Das ist ja immer auch eine Frage, wie offen man auf die Leute zugeht.
Und umgekehrt? Sind die Menschen am Kotti offen mit Ihnen umgegangen?
Viele fanden sehr spannend, was ich gemacht habe. Die interessanteste Erfahrung war wohl das Gespräch mit Conny, der wohl ältesten Süchtigen am Platz, die schon 40 Jahre drauf ist. Bei ihr hatte ich immer das Gefühl, dass sie mich als jemanden sieht, der da auch am Platz rumhängt. Sie hat mir ein paarmal angeboten, dass ich ja bei ihr wohnen könne, wenn ich keine Wohnung mehr hätte. Total herzlich und offen.
Haben Sie auch schlechte Erfahrungen gemacht?
Das Beknackteste waren jedenfalls ein paar Hipster – bei denen ich selbst schon dachte: Das muss ja jetzt auch nicht sein. Die habe ich aber dann doch angesprochen. Eigentlich sehr extrovertierte Typen – die sich aber letztlich zu fein waren, sich fotografieren zu lassen. Vielleicht hat sie auch das Wort „Adventskalender“ abgeschreckt. Andererseits: Ich finde es okay, wenn sich jemand nicht fotografieren lassen will.
Wenn Sie auf Ihre Fototouren gegangen sind: Haben Sie sich da einfach an einen Fleck hingestellt und gewartet, dass etwas passiert? Oder haben Sie die Menschen direkt angesprochen?
Beides. Das war auch von meiner Stimmung abhängig.
Sind diese 24 Bilder vom Kottbusser Tor, die die taz seit Anfang Dezember gedruckt hat, mehr als ein Fragment?
Eigentlich sind es nur aufscheinende Eindrücke. Wie gesagt, für ein soziologisches Projekt hätte man sicher länger dort arbeiten müssen.
Aber die Bilder vermitteln eine authentische Atmosphäre?
Ja, von verschiedenen Aspekten des Kotti, von verschiedenen Menschen, natürlich auch von meiner Stimmung zur Zeit der Aufnahmen. Vielleicht bin ich ja selbst ein bisschen Kotti geworden.
Was heißt das?
Tja, was ist der Kotti? … Vielleicht ein Punkt in Berlin, wo sich so etwas Raues und Abgefucktes und etwas Szeniges gerade noch so die Waage halten. Dabei ist es kurz davor, zu kippen.
In welche Richtung?
Na ja, wenn erst die ganzen Mietpreisbindungen der Hochhaus-Wohnungen aufgehoben werden, ist doch schon absehbar, dass da viele junge Leute WGs aufmachen werden. Die Gentrifizierung ist übrigens ein wichtiges Thema unter den Bewohnern.
Wird der Kotti irgendwann ein hipper Ort sein?
Ja, kann ich mir schon vorstellen. Das ist er doch auch schon in Teilen. Aber noch geht man da abends hin und dann auch wieder weg.
Dadurch, dass Sie den Ort fotografiert haben, haben Sie Ihren Teil zu der vielleicht kommenden Hipness beigetragen.
Klar. Am leichtesten wäre es wohl, sich da mit Adorno rauszureden. Aber ich nehme die Schuld ganz christlich auf mich. Ist ja schließlich Weihnachten. Da sind die meisten Hipster eh nicht mehr in Berlin.