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Archiv-Artikel

Die Verräterin

Man kann Weihnachten auch ohne Gans feiern. Ohne Fett und Knusperhaut und ohne ein Opfer von Tier, Koch und Familie. Aber dann ist es nicht mehr so schön zügellos

VON TILL EHRLICH

Die Gans suchte uns immer am ersten Weihnachtstag heim. „Weihnachten arbeitet man nicht“, sagte der Vater. Nur die Mutter opferte sich für uns auf, mühte sich mit dem Gänsebraten ab, der zäh blieb. Die Zeit klumpte wie kaltes Gänseschmalz – es war anstrengend, nichts zu tun. Ich fühlte mich träge und träger, was mich wahnsinnig machte im Kopf. Die dumme Gans ist schuld, sagte die Mutter.

Ich war neun Jahre alt und lag regungslos vor dem Fernseher, der Vater war an die frische Luft geflüchtet. In der Küche dampfte es heiß, der Mutter klebten die Haare feucht an der Stirn. Der süßliche Gänsedunst war überall, kroch über meine Haut in die Haare, in jeden Winkel der Wohnung, setzte sich fest und blieb haften wie ein fieser Albtraum.

Es gab kein Entrinnen, das Weihnachtsfest kehrte immer wieder zurück und mit ihm der Horror der Weihnachtsgans. Die geschlachtete Gans holte die Mutter von einem Bauern, der in Wirklichkeit kein Bauer war, sondern Chemiker im Arzneimittelwerk unserer Stadt und zum Zeitvertreib Gänse aufzog und schlachtete, was für die Mutter höchste Bedeutung hatte, weil er es nicht nötig habe und Geld für ihn nicht das Wichtigste sei, wie sie ständig sagte, sondern aus reiner Lust und Liebe die herrlichsten Gänse mästete, die freilich nie gequält wurden, weil der Chemiker sie fachmännisch und eigenhändig abstach und anschließend in eine Maschine mit schwarzen Gumminoppen steckte, mit dem Kopf nach unten, wo ihnen sämtliche Federn ausgerissen wurden.

Alles sei von kundiger und ruhiger Hand geschehen, erzählte die Mutter, die Gans könne ja gar keine Schmerzen gehabt haben, beruhigte sie mich, schließlich liebe der Mann seine Tiere ebenso sehr wie die Mutter mich. Sie erweckte mit ihren Worten den Eindruck, dass es das Schönste überhaupt sei, was den dummen Gänsen geschehen konnte, dass dieser wunderbare Mensch sie abgeschlachtet hatte, und dass sie ihm dafür im Gänsehimmel zu ewigem Dank verpflichtet seien.

Wenn die Gans gerupft und ausgenommen auf dem Küchentisch lag, musste ich sie bewundern. „Dieses Jahr ist sie aber besonders schön“, rief die Mutter dann. Für mich sah jede Gans gleich aus. „Fass ruhig mal an“, sagte sie.

Ich legte meine kleine Hand brav auf die große Brust, der tote Vogel fühlte sich kalt und schmierig an. Doch die Mutter war immer begeistert. Eine schöne Gans habe zwangsläufig zartes Fleisch. Sie könne schon am Wuchs einer Gans sehen, ob sie schmecken werde und schönes Fett habe. Das Fett war der Mutter besonders wichtig. Das gebratene Fleisch musste butterweich sein, aber es hatte für die Mutter nicht die Bedeutung wie das Fett. Manchmal dachte ich, dass die Mutter nicht mit Milch, sondern mit flüssigem Gänsefett aufgezogen worden war. Bei dem Fett achtete die Mutter darauf, dass kein Tropfen verloren ging, es wurde beim Braten abgeschöpft und in unzählige winzige Gefäße abgefüllt. Die Fettnäpfchen überreichte sie dann ihren Freundinnen als Mitbringsel, wenn sie sie zwischen Weihnachten und Neujahr besuchte.

Die Mutter war berühmt für ihre Fettnäpfchen. Beim Braten stach sie mit der Gabel so lange in die Keulen und den Brustansatz hinein, bis dass Fett sämig heraustroff. Dann kicherte sie leise und murmelte zufrieden: „Dumme Gans, du bist so dumm.“ Nach dem Fett kam gleich die Haut. Die Mutter schaffte es auf wundersame Weise immer wieder, dass die Gänsehaut derart knusprig geriet, dass es leise knackte, wenn man darauf biss. „Gib mir ruhig deine Haut“, flüstere sie mir zu. Zuvor musste der Vater noch die gebratene Gans am Tisch zerlegen. Er hatte überhaupt keine Ahnung, wie eine Gans zerteilt wird, und es interessierte ihn wohl auch nicht, er sei ein Geistesmensch, sagte er, aber er opfere sich gern dafür auf, der Familie zuliebe, wie er betonte, während er an dem Vogel herumsäbelte, was ein fürchterliches Gemetzel war, ein hilfloses Zerhacken, worüber die Mutter seltsamerweise großzügig hinwegsah, und der Vater gab ihr dann auch ein besonders schönes Bruststück mit viel Haut, nahm sich eine große Keule und verteilte Verdauungspillen, Cholecysmon, die immer nur „Silberperlen“ genannt wurden und bleiern aussahen, wie Luftgewehrkugeln. Ich wollte sie nicht einnehmen, woraufhin ich vom Vater genötigt wurde, sie zu schlucken. Das geschehe lediglich zu meinem Besten, nur für meine Gesundheit, niemand solle wegen der fetten Gans bei Tisch das große Kotzen kriegen, sagte der Vater.

Die Mutter kaute immer besonders genüsslich auf dem Gänsefleisch herum und rief mit heller Mädchenstimme: „Das ist ja eine richtige Sünde“, wobei sie den Knochenteller fixierte und einen seltsamen Glanz in den Augen hatte. Und fast immer endete das Weihnachtsgansessen damit, dass die Mutter und der Vater verstummten. Je länger sie die Gans verspeisten, desto weniger sprachen sie, entgegen ihren sonstigen Gewohnheiten, und irgendwann war es still am Tisch. Ich mochte diese Stille, und in diesem Moment fühlte ich einen Hass und gleichzeitig eine Liebe zu der Gans, ebenso wie ich naturgemäß Hass und Liebe für die Mutter empfand. Der Geschmack des Fleisches jagte mir immer wohlige Schauer ein. Später wurde mir übel, trotz der Silberperlen, und ich wollte erst kotzen, dann sterben. Zuvor musste ich noch die Mutter für ihre Künste loben, woraufhin sie jedes Mal sagte, dass ihr die Gans diesmal wirklich vollkommen misslungen sei, und alle ihr schnell widersprachen, bis sie sich befriedigt über den Mund wischte und es endlich wieder still am Tisch wurde.

In der heiligen Nacht vor dem Weihnachtsessen lag ich im Bett unter der Daunendecke, und ich stellte mir vor, dass die Federn in der Decke von der Gans waren, die wir am nächsten Tag verspeisen würden. Plötzlich fühlte sich die Daunendecke wie ein Federkleid an, ich bekam eine Gänsehaut und dachte an die Rupfmaschine mit den schwarzen Gumminoppen und daran, dass ich nun eine Gans sei, die geschlachtet wird und sich für die anderen aufopfert und in die Maschine von dem Chemiker gesteckt wird, mit dem Kopf zuerst. Und ich sah die Mutter vor mir, die mich ans fachmännische Messer des Chemikers liefern würde, der Familie zuliebe. Irgendwann rannte ich schreiend aus dem Bett, knipste das Licht an, sah an mir herab und stellte fest, dass ich noch keine Federn hatte und keine Gans war, was mich aber nie vollkommen beruhigen konnte. In diesen Momenten des Schreckens kam mir die Idee, dass Jesus, unser Erlöser, auch eine Gans war, die sich für die Herde geopfert hatte. Und wenn ich jemals Jesus nahe war, dann in dieser Horrornacht vor dem Gänseschmaus, unter dem Federbett.

In einer dieser schlaflosen Nächte kam mir die Legende vom heiligen Martin in den Sinn, der seinen berühmten Mantel mit einem Armen geteilt hatte, der nackt gewesen war. Den Martin hatten bekanntlich die Gänse verraten mit aufgeregtem Geschnatter, als er sich davor drücken wollte, Bischof zu werden. Und ich stellte mir vor, dass der Mantel vom Martin vollkommen aus den Federn der verräterischen Gänse gemacht worden war. Der Gedanke, dass meine Federdecke der Mantel vom heiligen Martin sei, der mich schützen könne vor der Mutter und dem fachmännischen Messer des Chemikers, beruhigte mich allmählich. Und kurz bevor ich einschlief, glaubte ich sogar, dass es die Gans verdient habe, dass der Chemiker sie abgestochen hatte und wir sie am nächsten Tag aufessen und ihr Fleisch mit Wonne verspeisen würden, weil sie ihren Schnabel nicht gehalten hatte und eine Verräterin war.

Später erfuhr ich, dass Verräter in archaischen Gesellschaften gern geschlachtet wurden. Mit der Gans verbinden sich Ambivalenzen wie Verrat und Wachsamkeit, die sie dazu bestimmt, Opfertier zu sein. Die Opferei folgt dem Glauben, dass das Üble sich selbst nach dem Guten sehnt. In dieser Ambivalenz muss die Gans die Schuld verkörpern, aber das will man dann auch ausgiebig genießen.

Gänse sind Herdentiere, keine Einzelgänger. Einer wird herausgenommen aus der Mitte der Herde und stellvertretend geopfert – wie Jesus. Das katholische Weihnachtsmahl muss festlich sein, und die Gans, bitte schön, fett, auch der Ärmste soll festlich tafeln können, will keine magere, sondern eine bestens gemästete Gans. Schließlich ist der Gott im Tischgebet der eingebundene Gast – da wird nicht geknausert.

Unter den katholischen Riten um Gans und Gänsebraten gibt es noch ältere, animistische Schichten, die auf das altgriechische Pharmakon verweisen. Das war ursprünglich ein analoger Zauber, bei dem das Menschenopfer durch das Tieropfer ersetzt wurde. Das geopferte Tier stirbt stellvertretend für den Verursacher der Schuld. So verkörpert das Pharmakon Gegensätzlichkeiten, es ist der Sündenbock, der das Böse in sich aufnimmt und konzentriert und so die Schuld sühnt. Gleichzeitig ist es auch Heil- und Arzneimittel. Die Pest wütete, und mit dem Opfertier glaubte man das Übel – Unglück, Krankheiten oder Seuchen – abzuwenden, indem man es aus der Stadt hinaustrug und im Feuer verbrannte. Erst später wurde das Opfertier auch verspeist, zuerst von den Ärmsten. Das Martyrium der Gänse besteht darin, dass sie als Gänseheer dafür da sind, in einer bösen Sache für das Gute getötet zu werden, auf dass das Böse sich nicht ausbreite.

Bis ins Mittelalter gab es Gänsebraten nur zu Martini und Michaelis, an Weihnachten aß man Schweinebraten, die gemästete Mettensau. Doch die Sau wurde noch ambivalenter erlebt als die Gans. An Monster dachte man bei dem Schwein, das sich im Kot suhlt und grunzt, genüsslich die widerlichsten Dinge frisst und als unflätiges, unreines, hässliches und grobes Tier galt. Auf den Papstkarikaturen der Reformationszeit wurde der Papst von protestantischen Eiferern, insbesondere Calvinisten, gern als Sau dargestellt. Andererseits schätzte man das Schweinefett, ohne das man Fleisch, Gemüse und Wurst kaum als Vorräte konservieren konnte, die den langen Winter hindurch bis zum Frühjahr halten sollten.

Weihnachtsesserei ist heute derart pervertiert und verdinglicht, dass es ein verführerischer Gedanke wäre, einfach zu vergessen, was war, und eine neue Form des weihnachtlichen Essens und Zusammenseins zu entwickeln. Doch es ist fraglich, ob das Neue aus der Ignoranz der Geschichte kommen kann. Gewiss kann man ein Weihnachtsfest ohne Gänsebraten feiern, das Wesentlichere ist, ob jenes ethische Moment entsteht, das zu einem Fest gehört: das Gönnen. Man gönnt sich und den anderen etwas, indem man es mit ihnen an einer Tafel teilt. Ein Fest zu feiern bedeutet auch, mit Genuss aus dem Vollen zu schöpfen. Und Feiern ist eine Kunst, zu der auch das Schweigen gehört, in dem der Mensch von der Seinsfülle in der Intensität der Speise und der Dichte der Zeit überwältigt ist.

Das große Weihnachtsfressen bietet Protestanten die Gelegenheit, Zurückhaltung zu zeigen, um das innere Gewissen zu beruhigen. Bei den Katholiken ist es genau umgekehrt: Bitte nicht sich zügeln! Jeder soll beim Gänseschmaus ausgiebig zulangen. So wurde der Gänsebraten früher den Bediensteten und Armen meist von den Reichen gespendet. Nicht aus christlicher Nächstenliebe, sondern weil man sie so stillschweigend zu Mittätern machte – immer im Bewusstsein, dass solch ein Gänseessen eine große Sünde ist. Diese schuldhafte Verstrickung habe ich schon als Kind gespürt, im Federbett und bei Tisch.

TILL EHRLICH, 43, serviert monatlich die Sättigungsbeilage im taz.mag. Zu Weihnachten brät dieses Jahr sein Schwiegervater die Gans