: Musik für Auge und Ohr
BESTÄNDE SICHTEN Das Arsenal-Kino hat unzählige Filme archiviert. Daraus dürfen ausgewählte KünstlerInnen neue Werke schöpfen. In dieses „Living Archive“ genannte interdisziplinäre Projekt wird jetzt Einblick gewährt
VON MARIA BAUER
Wenn sich der Vorhang im Arsenal öffnet und das geneigte Publikum erwartungsvoll auf den Vorspann von „Rhythm in Light“ schaut, dann knistert es im Kino. Erste Töne aus der Peer-Gynt-Suite von Edvard Grieg erklingen aus den Lautsprechern, und langsam bewegen sich die Bilder im Takt zur Musik auf der Leinwand.
Es sind verfremdete Formen von Alltagsgegenständen wie Ringe, Dreiecke, Pingpong-Bälle und Wunderkerzen, die Mary Ellen Bute (1906–1983) fragmentiert und für ihren ersten Schwarz-Weiß-Film 1934 eingesetzt hat. Zu den grafischen Elementen kommen handgezeichnete Bilder, die mit einem immer schneller werdenden Spiel aus Licht und Schatten kombiniert werden und sich synchron zur Musik bewegen. Bei „Living Archive“ im Arsenal wurden acht Kurzfilme der US-Künstlerin gezeigt, darunter auch ihre Animation „Escape“ (1937/1938). Bei dieser Koppelung von akustischen und visuellen Elementen tanzen bereits elektronisch erzeugte Farbfiguren im Rhythmus von J. S. Bachs „Toccata und Fuge in D Minor“ auf der Leinwand. Die Musik wird lauter, die Figuren springen die Zuschauer förmlich an. Wenn nach vier Minuten Tanz „The End“ auf der Leinwand verkündet wird, dann lacht uns eine Sonne an. Und eine Botschaft möchte Mary Ellen Bute dann noch noch vermitteln: „Music entertains eye as well as ear“.
Am Puls der Zeit
Die Medienwissenschaftlerin und Kuratorin Sandra Naumann hat eine vollständige Kopie des Filmwerks von Mary Ellen Bute für das Arsenal vermittelt. In Yale hat Naumann den spärlichen Nachlass von Bute aufgespürt und die Geschichte dieser Pionierin des Experimentalfilms erschlossen. Das Publikum erfährt an diesem Dezemberabend von der Geschichte einer der ersten Frauen weltweit, die in ihren Animationen die Übertragung musikalischer Kompositionsprinzipien auf die Gestaltung visuellen Materials erforscht hat. Was heute als computergeneriertes Musikvideo daherkommt, begann ursprünglich mit aufwendiger Handarbeit. „Mary Ellen Bute hätte wahnsinnig gerne einen Rechner zur Verfügung gehabt“, bemerkt Sandra Naumann. Als Avantgardefilmerin hat Bute die Grenzen ihres Mediums ausgelotet, sie war eine der Gründerinnen von „Womens’s Independent Film Exchange“ und am Puls der Zeit. Von der Presse wurde sie dafür mit Missachtung bedacht, als Filmemacherin und Technikerin hat sie nicht dem vorherrschenden Frauenbild ihrer Zeit genügt.
Mehr als 8.000 Filme sind im Archiv des Arsenal nach den Regeln der Archivpflege erfasst, vorwiegend als 16-mm- und als 35-mm-Kopien. Bis zum 50-jährigen Jubiläum der Institution im Jahr 2013 sind 33 KünstlerInnen eingeladen, diese Filme zu sichten und aus dem Material für neue Filme, Performances, Soundarbeiten oder Bücher zu schöpfen. Das Ergebnis ist offen. Damit wird der prozesshafte Charakter des Filmarchivs fortgesetzt: „Es gab nie einen irgendwie definierten Sammlungsbeschluss im Arsenal. Unsere Filme haben eine Produktionsgeschichte und eine Rezeptionsgeschichte. Damit haben sie eine Biografie, die niemals abgeschlossen sein wird“, erklärt Stefanie Schulte Strathaus, Leiterin des Projekts „Living Archive – Archivarbeit als künstlerische und kuratorische Praxis“.
In den einzelnen Projekten arbeiten AutorInnen, MusikerInnen, FilmemacherInnen, WissenschaftlerInnen und KuratorInnen. Alle Beteiligten wurden im fachgerechten Umgang mit Filmmaterial ausgebildet, die Schneidetische sind ständig belegt. „Living Archive“ ist ein internationales Projekt, die TeilnehmerInnen kommen aus aller Welt und bringen ihre jeweilige Perspektive in ein Filmhaus ein, das Weltkino birgt und Weltgeschichte spiegelt. Auch Zensur ist hier kein Fremdwort, denn einzelne Filme wurden unmittelbar vor dem Zugriff diktatorischer Regime gerettet. Im Archiv des Arsenal konnten sie überleben.
Diskussion der Ergebnisse
Während der Projektphase leben alle TeilnehmerInnen in Berlin. In Colloquien pflegen sie den Erfahrungsaustausch und diskutieren ihre Arbeitsergebnisse. Zusätzlich bietet das Arsenal monatlich einen öffentlichen Rahmen, um in der Diskussion mit einem interessierten Publikum gemeinsam ein Wissen über den gezeigten Film zusammenzutragen, das wiederum in „Living Archive“ einfließt. Beim „Öffentlichen Sichten“ gibt es keine Auswahlkriterien und kein Programm. Kurzfristig wird entschieden, welche Filme die ProjektteilnehmerInnen vorführen. Es sind Filme, die kaum zu sehen waren. „Wir wissen manchmal selbst nicht, was sich auf den Filmstreifen verbirgt“, sagt Stefanie Schulte Strathaus.
Die „Öffentliche Sichtung“ ist inzwischen in der Filmszene bekannt, das Kino im Arsenal ist meist voll besetzt. Immer mit dabei sind Erika und Ulrich Gregor, die zu jedem Film eine Geschichte beitragen. Erinnerungsarbeit ist für Stefanie Schulte Strathaus wichtig. Es gehe nicht um Nostalgie, sondern um die Erkenntnis, dass eine Rückschau die Sicht auf einen Film beeinflusst und darüber hinaus das Wissen um eine Filmbiografie prägt. Schulte Strathaus betont hier das Moment des Entdeckens, die Chance, sich dieses Moment als eine Kraft zu Nutze zu machen. Auch dadurch wird „Living Archive“ zur Praxis der Gegenwart.
■ Die nächste öffentliche Sichtung findet am 16. Januar statt