: 2012 – Wenn Bürger Politik durchkreuzen
DIREKTE DEMOKRATIE Das kommende Jahr wird das Jahr der Volksbegehren. Vom Tempelhofer Feld bis zum Masterstudium – eine ganze Reihe an Initiativen arbeitet derzeit an Gesetzentwürfen, mehrere Unterschriftensammlungen starten demnächst. Ein Überblick
■ In der ersten Stufe haben die Initiatoren sechs Monate Zeit, 20.000 Unterschriften von Berliner Wahlberechtigten zu sammeln. Die Angaben müssen leserlich und vollständig sein, jeder darf nur einmal unterschreiben.
■ In der zweiten Stufe des Volksbegehrens müssen sieben Prozent der Wahlberechtigten den Gesetzentwurf der Initiative unterschreiben – innerhalb von vier Monaten. Sieben Prozent entsprechen etwa 172.000 BerlinerInnen.
■ Zum Volksentscheid sind alle Berliner Wahlberechtigten dazu aufgerufen, in den Wahllokalen über den Gesetzentwurf abzustimmen. Damit die Vorlage angenommen ist, müssen mindestens 25 Prozent der Wahlberechtigten und gleichzeitig die Mehrheit der Abstimmenden dem Entwurf zustimmen. Der Verein „Mehr Demokratie“ bewertet das Verfahren nur als „teilweise“ bürgerfreundlich. Kritikpunkt unter anderem: das hohe Zustimmungsquorum.
■ Volksbegehren sind nicht zu allen Themen zugelassen. Sie dürfen sich beispielsweise nicht auf Personalentscheidungen oder Abgaben beziehen. Anliegen, die Auswirkungen auf den Haushalt haben, sind aber grundsätzlich zulässig. Das hat das Berliner Verfassungsgericht 2009 entschieden.
VON SVENJA BERGT
Der Selbstläufer: Nachtflüge
Die erste Stufe zum Volksbegehren war für die Initiatoren kein Problem: 28.000 gültige Unterschriften für ein Nachtflugverbot von 22 bis 6 Uhr am neuen Flughafen in Schönefeld haben sie bis Oktober gesammelt – und den Zeitraum von sechs Monaten noch nicht einmal ausgeschöpft. Kein Wunder: Wer Angst hat, nach Eröffnung des neuen Flughafens vom Fluglärm betroffen zu sein, unterschreibt. Die Initiative rechnet damit, dass sie Ende Mai mit dem Sammeln für die zweite Stufe beginnen kann. Der Zeitpunkt käme ihnen zugute: Im Juni soll der Flughafen in Betrieb gehen – Lärm inklusive.
Das Bewahrende: S-Bahn
Die Initiatoren des S-Bahn-Volksbegehrens haben gerade Sammelpause. Über 30.000 Unterschriften reichten sie vergangene Woche ein, die erste Stufe sollte damit genommen sein. Die Initiative fordert unter anderem eine Offenlegung des Vertrags zwischen Land und S-Bahn, mehr Personal auf Bahnhöfen und Barrierefreiheit. Im Ergebnis will sie mit ihren Forderungen eine Ausschreibung des S-Bahn-Betriebs verhindern. Im kommenden Jahr soll es weitergehen mit der zweiten Stufe der Sammlung. Dabei gilt: Je mehr Probleme bei der S-Bahn, desto einfacher das Sammeln für die Aktivisten.
Das Ökologische: Energieversorgung
Damit das Licht brennt und die Waschmaschine läuft, muss die benötigte Energie zum Verbraucher transportiert werden. Das übernimmt derzeit Vattenfall. Der Berliner Energietisch will jedoch, dass wieder das Land für die Stromnetze zuständig ist. Außerdem soll es verpflichtet werden, ein Stadtwerk zu gründen. Das soll sich unter anderem um die Gewinnung von Energie aus erneuerbaren Quellen und die Energieeinsparung vor allem im Gebäudebereich kümmern. Die Initiatoren versprechen sich davon einen schnelleren Wandel hin zu einer ökologischeren Energieversorgung. Auch hier arbeiten die Aktivisten noch am Gesetzentwurf – in den ersten Monaten des kommenden Jahres soll die Unterschriftensammlung für die erste Stufe starten.
Die zweite Runde: Wasserbetriebe
Im Februar haben sie Geschichte geschrieben: Mit dem gewonnenen Volksentscheid über die Offenlegung der Verträge zur Teilprivatisierung der Wasserbetriebe hatte erstmalig ein Volksentscheid in Berlin Erfolg. Schon damals hatten die Aktivisten im Kopf, dass nach einer Offenlegung der Verträge die Rekommunalisierung der Wasserbetriebe folgen müsse. Nun liegen die Verträge offen, doch in der Sache bewegt sich derzeit nichts: Die Verhandlungen mit den privaten Anteilseignern RWE und Veolia über einen Rückkauf oder vertragliche Änderungen dauern an, eine Einigung ist nicht in Sicht. Daher planen die Initiatoren ein zweites Volksbegehren – direkt zur Rekommunalisierung der Betriebe.
Das Gescheiterte: Masterstudium
Für die Initiatoren ist es der zweite Anlauf: Schon im Mai starteten sie eine Unterschriftensammlung für einen garantierten Zugang zum Masterstudium für Bachelor-Absolventen. Innerhalb eines halben Jahres kamen nicht einmal 2.000 Unterschriften zusammen. Nun soll es im zweiten Anlauf klappen. Unter den Studierenden ist das Anliegen allerdings umstritten: So kritisiert der Referent_innenrat der Humboldt-Uni, dass damit Berliner Bachelor-Absolventen bevorzugt würden. Wer zunächst außerhalb studieren und für den Master nach Berlin kommen wolle, werde das Nachsehen haben.
Das Freie: Tempelhofer Feld
Es ist grün, platt und groß. Damit das Tempelhofer Feld seine Weite nicht durch Bebauung einbüßt, will eine Bürgerinitiative mit dem Slogan „100 Prozent Tempelhofer Feld“ mittels Volksbegehren durchsetzen, dass die Fläche unbebaut bleibt – und zwar komplett. Eine Teilbebauung am Rand soll es ebenso wenig geben wie die Internationale Bau- oder Gartenbauausstellung auf dem Areal. Der Kern der Initiative ist im Schillerkiez zu Hause, auf der Neuköllner Seite des ehemaligen Flugfeldes. Momentan arbeiten die Aktivisten noch am Gesetzentwurf – „in Kürze“ soll dann die Unterschriftensammlung für die erste Stufe starten.
Das Unsichere: A 100
Politisch gesehen ist der Weiterbau der A 100 beschlossene Sache. SPD und CDU sind dafür, Letztere hat sogar ein Bekenntnis zum 17. Bauabschnitt bis zur Frankfurter Allee im Koalitionsvertrag durchgesetzt. Aktuell geplant ist lediglich der 16. Bauabschnitt vom Autobahndreieck Neukölln bis zum Treptower Park. Derzeit laufen noch Klagen, bis zur Entscheidung wird nicht gebaut. Unterliegen die Kläger vor Gericht, könnte ein Volksbegehren nach Ansicht der Gegner die letzte Chance sein, die Verlängerung der A 100 doch noch zu verhindern. Das Problem: Ein Volksentscheid hätte zwar Signalwirkung, ob er bindend wäre, ist aber unklar – die A 100 ist eine Bundesautobahn. Zudem befürchten die Gegner, letztlich am Quorum zu scheitern, falls sich zu wenig Menschen direkt betroffen fühlen.