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Archiv-Artikel

Vom Büblein zum Kanzler in spe

Christian Wulff hat in den vergangenen fünf Jahren das Land verändert, am meisten aber wohl sich selbst. Korpsgeist bei der CDU, Siechtum bei der SPD: Rückschau auf die Legislaturperiode gut vier Wochen vor der Landtagswahl in Niedersachsen

VON KAI SCHÖNEBERG

Quinquennium nennen Historiker die ersten fünf Regierungsjahre des römischen Kaisers Nero. Ein glückliches Jahrfünft soll die Zeit zwischen 54 und 59 nach Christi Geburt gewesen sein. Der Imperator kümmerte sich um die Verschönerung Roms, das er später niederbrennen sollte. Auch Christian Wulff hat jetzt die ersten fünf Ministerpräsidentenjahre auf dem Buckel. War 2003 bis 2008 für Harz und Heide nun ein „quinquennium felix“, ein glückliches Jahrfünft, oder ein Schreckensregime?

Die Arbeitslosenzahlen sinken, die Wirtschaft boomt – das liegt an der Konjunktur, weniger an fünf Jahren Wulff. Dennoch mutet es fast aberwitzig an, wenn die SPD mit der sozialen Karte die Wahl gewinnen will.

Schröder sah ein „Büblein“

Wulff hat das Land seit 2003 verändert, am meisten aber wohl sich selbst. „Das Büblein stampft und hacket“, hatte SPD-Ministerpräsident Gerhard Schröder Oppositionsführer Wulff einst verhöhnt. Zweimal hatte der vergeblich am Zaun der Staatskanzlei in Hannover gerüttelt. Lange hat niemand mehr den CDU-Bundesvize „Milchbubi“ genannt, fast unangefochten präsidiert der Rechtsanwalt über den acht Millionen Einwohnern des Flächenstaats. Unverbindlich, glatt und landesväterlich nach außen, hart bis brutal in den eigenen Reihen. Davon merkt das Volk nichts, weil der 49-Jährige zuerst seine einst zerstrittene Landespartei, dann die Koalition auf Wulff-Kurs getrimmt hat. Korpsgeist ist eine Essenz des Erfolges: Er gründet sich auf der Macht und den Jobs, die in Niedersachsen nur CDU und FDP vergeben können. Die Wahl am 27. Januar, aus der Wulff laut allen Umfragen mit leichten Schrammen als Sieger hervorgehen wird, gilt vielen weniger als Kampf mit SPD-Spitzenkandidat Wolfgang Jüttner. Vielmehr als Fernduell mit dem Hessen Roland Koch um den Titel des künftigen CDU-Kanzlerkandidaten, sollte die Zeit von Angela Merkel in Berlin abgelaufen sein.

„Als Ministerpräsident kannst du eigentlich gar nicht abgewählt werden, wenn du keine Fehler machst“, hatte ihm Erwin Teufel einst gesagt. Teufel ließ sich von den eigenen Leuten wegmobben, Wulff macht weiter. Trotz vieler Totalausfälle: Vorstöße zur Rechtschreibreform, zur Kultusministerkonferenz, zum NDR-Staatsvertrag scheiterten. Sein Vorgehen in der VW-Affäre isolierte den „MP“ im Aufsichtsrat des Autokonzerns, machte ihn aber bundesweit bekannter. Noch ein Trick: Gut drei der fünf Regierungsjahre hielt er die Niedersachsen unter der Sparknute. Bluten mussten die Wehrlosen: Die Natur-, die Kultur- und Sozialverbände, die Studenten, die Blinden, die Landesbeamten. Die Bezirksregierungen wurden abgeschafft, die Landeskrankenhäuser privatisiert.

Nun brüstet sich die CDU-FDP-Regierung mit der geringsten Neuverschuldung seit 35 Jahren, dabei sind viele Miese in Schattenhaushalten versteckt. Seit gut einem Jahr hat Wulff Jammern und Agieren eingestellt, auf Defensive umgeschaltet: Konflikte werden abgeräumt, der Opposition Angriffsfläche genommen. Beitragsfreies Kita-Jahr, Erdkabelgesetz, „Feuerwehr“-lehrer, ja sogar ein Polizeigesetz wurde beschlossen, das nicht erneut vom Bundesverfassungsgericht kassiert werden dürfte. Zickzack-Kurs beim Raucherschutz, Einknicken beim Mindestlohn: Wulff regiert derzeit nach Volkes Schnauze.

Politik der ruhigen Hand auch bei den Schulen: Eltern und Lehrer werden mit dem Versprechen geködert, nach Abschaffung der Orientierungsstufe, den neuen Inspektionen und der eigenverantwortlichen Schule sei Schluss mit Reformen. Wulff düpierte Kultusminister Bernd Busemann (CDU) mit der Ankündigung, nach der Wahl das Verbot neuer Gesamtschulen zu lockern. Im Kabinett wird Busemann gerüffelt, weil Wulffs Tochter Annalena wegen der Verkürzung der Schulzeit auf zwölf Jahre zu viele Hausaufgaben hat. Gerüchteweise soll Busemann auf den Posten des Landtagspräsidenten abgeschoben werden – hier saß bislang Wulffs anderer Altfeind Jürgen Gansäuer, der in Rente geht. Weitere Wackel-Minister: Lutz Stratmann (Wissenschaft), Elisabeth Heister-Neumann (Justiz), die erst ihren Wahlkreis gewinnen müssen. Und die gesundheitlich angeschlagene Mechthild Ross-Luttmann (Soziales).

Unruhe schafft derzeit nur die in den Umfragen schwächelnde FDP. Dass sie erneut mit den Polit-Dinos Walter Hirche (66) und Hans-Heinrich Sander (62) ins Kabinett will, löst beim Koalitionspartner Kopfschütteln aus. Sanders Haudrauf-Manier im Umweltbereich ist zudem umstritten, Hirche kommt mit seinem Prestigeprojekt, dem Tiefwasserhafen in Wilhelmshaven, nicht in die Strümpfe und wird im Untersuchungsausschuss mit Schmutz bombardiert.

SPD im Tal der Tränen

Die Opposition wird aus den Straucheleien wenig Honig saugen können, sagen die Umfragen. Die Grünen, bienenfleißig, manchmal pfiffig, können laut Demoskopen zwar am 27. Januar zulegen, aber eine Regierungsoption haben sie kaum. Der Grund: Die SPD siecht. Seitdem Sigmar Gabriel 2003 fast 15 Prozent und damit die absolute Mehrheit verlor, haben die Sozialdemokraten wenig Licht gesehen. Gabriel wurde von Wulff umgehend wegen hoher Schulden und Beraterverträgen, dann durch die VW-Affäre in den Schwitzkasten genommen. Für die SPD war 2005 das Schicksalsjahr: Einerseits floh Gabriel ins Berliner Umweltministerium. Außerdem entschied sich der heutige Landesparteichef Garrelt Duin, Bundestagsabgeordneter zu werden, statt den mühevollen Weg Richtung Hannover einzuschlagen. So fehlt der SPD ein Kronprinz für die Wahl 2013.

Jüttner ist derweil eine Art Rudolf Scharping der niedersächsischen SPD: Politik mit Bart. Wulff nicht gewachsen, zudem zu solide – viele in der SPD sehen darin sein größtes Problem. Sollte der 59-Jährige die 33,4 Prozent der vergangenen Wahl in gut vier Wochen noch unterbieten – viele Prognosen deuten derzeit darauf hin –, muss er wohl gehen. Dann fehlt der SPD ein Nachfolger mit Esprit. Der Ostfriese Duin, gerade 39 Jahre alt, wäre so einer gewesen, sagen Sozialdemokraten.

Insgeheim spekulieren die Genossen derweil auf eine große Koalition. Die wäre aber nur gangbar, wenn die Linke ins Parlament einzöge. Die Demoskopen sehen sie in Niedersachsen wie zuvor in Bremen bei um vier Prozent. Letztlich wurden es an der Weser bei der Wahl im Mai 8,4 Prozent.