Avantgarde, adieu

Die Provokation in der Kunst überschreitet ’68 ihren Zenit: Sie wird zum Besitz aller – als Happening, als Trip, als Ästhetisierung in jeder Hinsicht

VON BRIGITTE WERNEBURG

Die politischen Ideen, ästhetischen Ideale und sexuellen Fantasien, die die westlichen Industriegesellschaften 1968 umtreiben, sind keineswegs radikal neu und revolutionär. Neu und revolutionär ist, dass sie öffentlich werden. Die Arkana, die Eingeweihtheiten elitärer Zirkel und Kreise, das gesellschaftskritische, emanzipatorische und radikale Gedankengut linker Intellektueller und der liberale bis libertinäre Lebensstil eines durch Geld und Bildung abgesicherten Großbürgertums dringen in die Lebenswelt der Mittelklasse vor.

Bannerträger sind zunächst die Studenten und Bohemiens von unterschiedlichster Herkunft. Diese jungen Leute und Leute mit Muse sind der in ihrem Arbeitsalltag gefangenen Mittelklasse nicht unbedingt sympathisch. Tatsächlich begegnen sich beide Parteien mit Misstrauen und Skepsis. Die Annahme, Gewinner des gesellschaftlichen Transformationsprozess zu sein, immerhin teilen sie.

Wie auch die Faszination an der Selbstinszenierung der Sub- und Popkultur. Nicht die politischen, ästhetischen und sexuellen Freiheiten, die mit 1968 in Verbindung gebracht werden, sind neu. Neu ist, wie widerstandslos sie die Gesellschaft durchdringen. Sie sind nicht nur Thema auf dem Campus oder in der Großstadt, schon in den Schulen und selbst auf dem platten Land sorgen sie für Diskussionen.

Revolutionär ist 1968 die Einebnung von Intellektuellen- und Mittelklassenkultur. Dabei geraten die Kanons und Traditionen auf beiden Seiten gehörig ins Trudeln. Als Susan Sontag 1966 feststellt, „das Gefühl, das von einem Bild Rauschenbergs evoziert wird, kann von der gleichen Art sein wie jenes, das ein Lied der Supremes erweckt“, herrscht in beiden Lagern Verwirrung, dem der Kunst und der High Art wie im Lager von Motown und der Low Art der Unterhaltungskultur.

Die zeitgenössische bildende Kunst in ihren Spielarten Konzeptkunst, Minimal Art und Pop Art nimmt 1968 keine markante Rolle ein. Robert Rauschenberg ist so wenig ein Achtundsechzigern wie Joseph Beuys. Die Innovationsschübe, Brüche und Neuansätze der Kunst verlaufen nicht synchron zu den gesellschaftlichen Entwicklungen und Eruptionen. Vor allem das Konzept der Avantgarde kompliziert die Situation.

Dieses Konzept verstellt die Sicht auf das Neue an ’68: auf eine Gesellschaft, die sich selbst – ebenso plötzlich wie euphorisch – als experimentellen Raum entdeckt. Dank der Idee der Avantgarde verfügt die Kunst längst über einen solchen Raum, in dem die progressiven Ressourcen neuer, unangepasster, umstürzlerischer Ideen ästhetischen Ausdruck und in Folge oft genug Öffentlichkeit finden.

Aus Sicht der zeitgenössischen Kunst ist ’68 die Fortsetzung der Avantgarde mit ihren eigenen Mitteln. Schließlich verdankt ’68 Wesentliches seiner Protestformen, ob Sit-in oder Spaßguerilla, Avantgardebewegungen der Fünfzigerjahre wie Fluxus, Aktionskunst und Situationismus. Allan Kaprow etwa entwickelt das Happening in einer Aktion, die er 1959 in der New Yorker Reuben Gallery organisiert.

Wesentlich für das Happening ist das Einbeziehen des Publikums, das den weiteren Verlauf der Aktionen und Performances durch seine Reaktion mitbestimmt. 1967 erklärt Kaprow dann in Chicago die Inbesitznahme leer stehender Häuser durch Menschen, die Wohnraum benötigten, zum Happening. Künstlerisch inspiriert ist ’68 auch durch die Situationistische Internationale um ihren Cheftheoretiker Guy Debord und den Maler Asger Jorn.

Debords Gegenwartsanalyse „Die Gesellschaft des Spektakels“ von 1967 ist ein Leitfaden für den Pariser Aufstand im Mai 1968, bewusst als zitierfähiges Brevier zur Erziehung der Erzieher angelegt. Denn trotz der Absage an die bürgerliche Intellektuellenkultur und der Entwicklung popkultureller Frühformen wie Fotoroman, Comic-Collage, Cut-up-Texte – immer mit dem Hinweis „alle in der Situationistischen Internationale veröffentlichten Texte dürfen frei und auch ohne Herkunftsangabe abgedruckt, übersetzt oder bearbeitet werden“ versehen –, trotz der Pin-up-Girls, die sich zwischen hochtheoretischen und hochpolemischen Traktaten räkeln, Asger Jorns schnurrbärtige Mädchen im Kommunionskleid, die in seiner „Abteilung für die Nachbesserung alter Bilder“ entstehen, proklamieren auf den von ihm übermalten, auf dem Flohmarkt zusammengekauften Gemälden: „Die Avantgarde ergibt sich nicht.“

Doch eine Gesellschaft, die sich eigenständig über ihre selbst verschuldete Unmündigkeit – ob in sexueller, intellektueller oder ideologischer Hinsicht – aufklärt und jedem, nicht nur dem Sonderfall Künstler, das Recht der Selbstverwirklichung durch schöpferische Arbeit zuspricht, macht eine Avantgarde obsolet, die es einem elitären, durch besondere Begabung ausgezeichneten Kreis vorbehält, die Gesellschaft mit ihren progressiven Ressourcen bekannt zu machen.

Der Hybridstil aus Massen- und Intellektuellenkultur bedient sich der Ironie und Affirmation. Es gilt nicht länger, in der Verneinung Widerstand gegen das politische und wirtschaftliche System zu leisten, jetzt geht es darum, sich ihm gewachsen zu zeigen, ihm positiv, affirmativ entgegenzutreten, um es dadurch womöglich am nachhaltigsten zu sabotieren und kritisieren.

Andy Warhol, der sich wünscht, eine Maschine zu sein, genießt und negiert seine Entfremdung, indem er in seiner New Yorker Factory Superstars in Serie herstellt. „16 Jackies“ schon 1964. Eines der Geheimnisse elitärer Kreise, das 1968 zur Mainstreamerfahrung und zum Signum der Epoche avanciert, ist der Gebrauch bewusstseinserweiternder Drogen, besonders von LSD.

Auch hier setzt 1968 den Schlusspunkt hinter die große Erzählung von der Avantgarde. Die Ursprünge der psychedelischen Bewegung liegen bei einer Gruppe von Psychiatern, Wissenschaftlern, Schriftstellern und Künstlern, die sich in den Fünfzigerjahren um den britischen Autor Aldous Huxley („Brave New Word“, 1932, deutsch: „Schöne neue Welt“) scharen. Aufgrund der intensiven mystischen Erfahrungen durch die Droge, meinen Huxley und sein Kreis, bedürfe es einer Gruppe Erwählter – selbstverständlich aus ihrem Kreis, der klassischen Vorhut –, die die Gesellschaft auf die Möglichkeiten der bewusstseinsverändernden Drogen vorbereite.

Einer der von ihnen Erwählten freilich, der Harvard-Dozent Timothy Leary, geht diese Mission noch ein ganzes Stück radikaler an und verabschiedet sich äußerst öffentlichkeitswirksam aus seinem akademischen Leben. Die Popularität, die LSD durch den Medienrummel erfährt, ist kaum zu überschätzen. Auch der Schriftsteller Ken Kesey („Einer flog übers Kuckucksnest“, 1962) verschreibt sich mit seiner Merry Pranksters genannten Truppe der Popularisierung bewusstseinserweiternder Drogen und startet 1964 mit dem im psychedelischen Stil der Zeit dekorierten „Magic Bus“ eine Promotionstour durch die USA (wo LSD erst 1966 verboten ist).

Mit einem kompletten Ton- und Filmstudio ausgestattet, will der Bus nicht nur Wohnmobil, sondern vor allem Medienlabor sein. Ihren Höhepunkt erreichen die Pranksters-Aktivitäten im Trips Festival 1966 in San Francisco, das den anfangs subkulturellen LSD-Konsum endgültig zur Mainstream-Angelegenheit macht. Zumal Ken Kesey und die Seinen den von Huxley und Leary überlieferten spirituellen und erkenntnissuchenden Ballast des LSD-Konsums verwerfen.

Ähnlich wie Op Art und Kinetische Kunst, der sie wichtige Anstöße verdankt, gilt die psychedelische Kunst als Kuriosität der Kunstgeschichte. Der Autor und Kritiker Dave Hickey rechnet die psychedelische Kunst denn auch antiakademischen Stilrichtungen wie Rokoko, Jugendstil oder Las Vegas zu, die „Komplexität über Schlichtheit stellen, das Muster über die Form, die Wiederholung über die Komposition, das Weibliche über das Männliche, das Geschwungene über das Geradlinige und das Fraktale, das Differenzielle und das Chaotische über die euklidische Ordnung“.

Allzu dekorativ und populär sind sie gegen die Einverleibung durch die Institutionen gefeit. Damit ist die psychedelische Kunst des Flyers und Plakats, der Lightshows und multimedialen Dröhnung, der für ’68 repräsentativste Beitrag der Kunst. Antikunst, nicht als Fortsetzung, sondern als Überwindung der Avantgarde mit ihren Mitteln.

BRIGITTE WERNEBURG, Jahrgang 1960, im Münchner Schwabing erwachsen geworden, über Los Angeles nach Berlin gekommen, ist seit acht Jahren taz-Kunstredakteurin