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Archiv-Artikel

Lust auf Barrikaden

Ganz ohne Gewalt ist eine Revolte nicht zu haben. Auch das zeigt das Jahr 1968

VON JAN FEDDERSEN & WOLFGANG GAST

Ostern 1968: Die Presse, und nicht sie allein, spricht von bürgerkriegsähnlichen Zuständen in der Bundesrepublik, als das Attentat auf Rudi Dutschke eine sehr wohl militante Blockade des Axel Springer Verlages auslöst. In Brand gesetzte Autos deuten einen Umbruch im Lande an, der heute, 40 Jahre später, als überfälliger Prozess politischer, sozialer und wirtschaftlicher Modernisierung erscheint und der trotz aller Irrtümer und Irrwege alles in allem als geglückt gilt.

Nicht nur unter den Talaren mancher Ordinarien klebte der sprichwörtliche „Muff von 1.000 Jahren“, also eine braune oder sonst wie lastende Vergangenheit, so gut wie alle Institutionen riefen nach Erneuerung. Eine Neu- oder Umgründung der Republik stand auf der Tagesordnung, und die war nur gegen den ausgesprochenen Widerstand des christdemokratischen Establishments der Nachkriegszeit („Wirtschaftswunder“) durchzusetzen.

Nichts symbolisiert jene Jahre krasser als Bilder von Aufruhr, von Gewalt, von Aggression und von Hass. Solche, die allerdings in erster und letzter Linie den Protestierenden zugeschrieben werden. Sie galten als die Aufrührer, sie waren die Brandstifter, sie waren es, die den Kleinbürgern Angst machten. Die ihre Furcht vor Unfrieden im Land befeuerten und sie nicht in Ruhe ließen. Und es ist ja auch richtig: ’68 war auch eine Zeit der Gewalt, der Konflikte, die sich nicht mehr als laue Meinungsverschiedenheiten lesen ließen.

Sie hatten ja auch Lust auf Gewalt. Aggression macht ja überhaupt Spaß. Allen Zivilisationsmühen einer bürgerlichen Gesellschaft zum Trotz: Zu sittsame Ordnungen laden besonders intensiv zur Grenzüberschreitung ein. Wir kennen dies aus dem gewöhnlichen Alltag: Jugendliche, die Mülleimer umstoßen, andere, die Autos in Brand setzen, Mobiliar in öffentlichen Verkehrsmittel beschädigen oder einander verprügeln. Ewigen Frieden gibt es niemals, weil jede Gesellschaft die Wut jener anspornt, die sich kleingehalten fühlen, unbeachtet oder schlicht unterdrückt. Und im kollektiven Maßstab war dies in jenen Jahren ebenso, die der Ära von ’68 vorangingen. Das Gefühl über die Stimmung in der Bundesrepublik schildern Zeitzeugen in Nuancen unterschiedlich, aber gemeinsam teilen sie mit: Das Leben im Land war wie das in einem Vakuum, ein Biedermeier nicht nur in den Institutionen, keine Luft zum Atmen, jede Fantasie sofort im Keim erstickt, oder, wie es überall an jeder Grünanlage zu lesen stand: „Betreten des Rasens verboten“ und an Spielplätzen: „Lärmen zwischen 13 und 15 Uhr strikt untersagt“.

Die Gewalt mag – im Spiegel der Medien jener Jahre – von den Revoltierenden ausgegangen, sie mag Fensterscheiben zu Bruch gebracht haben, die besser heil geblieben wären. Aber sie war eine Reaktion, keine nur psychopathisch misszuverstehende Angelegenheit von „Gammlern, Pinschern, Uhus“, wie der Nachfolger Konrad Adenauers auf dem Posten des Bundeskanzlers, Ludwig Erhard, alle beschimpfte, die den deutschen Sinn nach „Schaffe, schaffe, Häusle baue“ nicht bedienen wollten.

Die Gewalt, die ’68 zugeschrieben wird, war eine Antwort auf all jene Gewalt, die im Alltag zu notieren war, unter der Menschen litten, die rechtlich kaum zu beanstanden war, die, so glaubten Konservative, sein müsse, um ein durch die Nationalsozialisten entfesseltes Gemeinwesen zu bändigen.

Die Gewalt, die zu thematisieren war, eben nötigenfalls auch handfest, hockte in den Familien, in Ämtern, in Gerichten, in Nachbarschaften, in Jugend- wie Kinderheimen.

Reform hieß damals alles, was programmatisch für den Abschied vom Nachkriegskonsens der Christdemokratie stand. Das Wort bedeutete, 1969 durch den ersten sozialdemokratischen Kanzler der Bundesrepublik in der Regierungserklärung vorgetragen, „mehr Demokratie wagen“. Willy Brandt umriss damit nur das allgemeine Lebensgefühl der gefühlten Mehrheit des Landes.

Gewalt im Lande, die buchstabierte sich in Wahrheit so: Arbeiter und Angestellte hatten in ihren Jobs nur geringe Rechte; an der Frage des Paragrafen 218 hatte der Klerus, sehr entschieden gegen das Selbstbestimmungsrecht von Frauen, das Verbot eines Schwangerschaftsabbruchs sehr fest im Griff; Homosexualität wurde polizeilich verfolgt, ihr galt die bis 1969 gültige Nazifassung; Kinder zu prügeln war erlaubt, gemeinhin galt die Züchtigung des Nachwuchses als günstigstes Mittel, sie nicht allzu stark aufblühen zu lassen; Universitäten waren damals kaum mehr als Horte bürgerlicher Selbstrekrutierung, Proleten sollten da nur wenig zu suchen haben; überhaupt war das Land eingefrostet von einer Atmosphäre der lähmenden Sittsamkeit, des „Das tut man nicht“ und „Wo kommen wir da hin“.

An Alltagssprüchen, Volksweisheiten ist es zu dechiffrieren: „Kinder mit ’m Will’n / krieg’n was auf die Brill’n“. Oder „Wer sich nicht nach der Decke streckt / dem bleiben die Füße unbedeckt“. Auch der Satz „Alt und grau kannst du werden / aber nicht frech“. Das Schreckwort unter Eltern war „Fantasie“. Hatte einer der Sprösslinge solche, musste befürchtet werden, dass die Pläne, die man mit ihnen machte, ausufern könnten: Fantasie war nicht die Tugend, auf die es den Erwachsenen in jenen Jahren ankam.

Gegen all diese Umstände, die der halben Republik und ihres akademischen Nachwuchses am stärksten auf die Nerven gingen, musste protestiert werden, nötigenfalls auch mit Gewalt. Ein Begriff von Gewalt, der alle Aggressionen mit einbezieht, die Konservative nach dem Verlust der Macht an die Sozialliberalen beklagten. Man muss – zumal aus der Perspektive vierzig Jahre danach – nicht pharisäerhaft sein und bestreiten, im Grunde keine Gewalt oder Militanz verübt zu haben. Es war nichts als Aggression, die vielen Universitätsprofessoren entgegenschlug, und es war Aggression, die in Tausenden von Elternhäusern ausbrach, als mit ’68 endlich die Dämme gebrochen waren. Die ProtagonistInnen fühlten sich endlich nicht mehr isoliert – und sie fühlten sich cool.

Ohne auf den Bodensatz der Revolte, wie Jan Philipp Reemtsma die RAF einmal charakterisierte, einzugehen: Deren prominenteste Figur, Ulrike Meinhof, traf mit ihrem Engagement gegen die Verwahrung, besser: Verwahrlosung von Jugendlichen in Heimen den Nerv ihrer Zeit. So sollten Menschen nicht behandelt werden, war der Sound dieser Jahre, sie verdienen jede Mühe, sie nicht kriminell werden zu lassen, sich um sie zu kümmern, ihnen ein Leben jenseits von Zuchtmühlen zu ermöglichen.

Heute kann das kaum noch nachgeschmeckt werden. Berichte über Frauen, die nach einer Abtreibung zu Haftstrafen verurteilt wurden; von Kindern, die einen bösen Makel trugen, weil sie nicht ehelich geboren wurden; von Jugendlichen, die schon wegen kleiner Delikte im Knast weggesperrt wurden, vermag heute kaum einer nachzuvollziehen. Doch sie trafen zu. Schlechtere Zeiten sind immer schwer nachfühlbar, wenn einer in schon bessere hineingeboren wurde.

Das jedoch steht fest: Jede dieser Reformen musste gegen den steinharten Widerstand der konservativen und ordnungschristlichen Milieus durchgefochten werden. Keine gesetzliche Besserung wurde von ihnen einfach respektiert. Kinder zu schlagen gilt bei manchen im Übrigen immer noch als Tat, die in der Idee der Erziehung stattfinden darf.

Gewalt war nötig, zivile durch und durch. Sie ist in jeder Rebellion, die ihre Sache ernst nimmt.

WOLFGANG GAST, Jahrgang 1958, und JAN FEDDERSEN, Jahrgang 1957, sind keine Achtundsechziger. Die Früchte der Saat der Sechziger schmeckten ihnen aber in den Siebzigern sehr wohl