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Archiv-Artikel

„Normalerweise nicht mehr Untertan“

Nicht mal im Bremen-Lexikon steht‘s: Vor 100 Jahren schrieb der Bremer Schulreformer Arnold Heinrich Eildermann die Hymne der Großstadtjugend: „Dem Morgenrot entgegen“. Ein Gastbeitrag des Liedgutforschers Michael Zacchial

MICHAEL ZACCHIAL („Zaches & Zinnober“, „Grenzgänger“) ist spezialisiert auf das Reaktivieren der politischen Volksliedkultur. Den letzten von bislang drei Preisen der Deutschen Schallplattenkritik bekam er für das Album „1920“ über die vergessene Märzrevolution im Ruhrgebiet.

Die Bekämpfung der Kinderarmut war das zentrale Thema im letzten Bremer Wahlkampf. Dabei ist die Erkenntnis, dass die Kinder in Gröpelingen, Walle oder Tenever schlechter leben, häufiger erkranken und somit früher sterben werden als ihre Altersgenossen in Borgfeld oder Oberneuland, nicht neu. Und dass unser Schulsystem diesen unerträglichen Zustand noch verstärkt, wissen wir auch nicht erst seit PISA.

Schon vor mehr als 100 Jahren engagierten sich Bremer Lehrer für eine weitreichende Schulreform. So wie Hermann Böse, nach dem heute in Bremen eine Straße und ein Gymnasium benannt sind, stammten nicht wenige von ihnen selbst aus Arbeiterfamilien. Einige Bremer Schulreformer begannen mit der Umsetzung ihrer Ideen im Unterricht. Die Schulbehörde reagierte mit harten Disziplinarmaßnahmen: Verweise, Lohnkürzungen bis hin zu Entlassungen wurden ausgesprochen, weil Lehrer im Turnunterricht kurz musiziert hatten, keine Morgenandachten abhalten wollten oder sich weigerten, die bei Sedanfeiern vorgegebenen Lieder zu singen, wie: „Deutsch zu heißen, will ich streben, Deutschland Blut und Leben weih’n“. Oder: „Gib, Vater, mir ein Schwert, verachte nicht mein junges Blut, ich bin der Väter wert! Ich finde fürder keine Ruh im weichen Knabenstand, ich stürb, o Vater, stolz wie du den Tod fürs Vaterland“.

In einer Eingabe an die Bremer Schulbehörde schrieb der Vorstand des Bremer Lehrervereins: „Der Deutsche fühle sich normalerweise nicht mehr als Untertan, sondern als Staatsbürger“. Im Vorstand saß damals auch der 28-jährige Lehrer Arnold Heinrich Eildermann, der wie andere seiner Lehrerkollegen an Sonn- und Feiertagen mit Kindern und Jugendlichen aus den Elendsquartieren hinaus ins Grüne zog, um sich zu erholen und gemeinsam zu lernen. Mit dabei waren auch Lehrlinge und junge Arbeiter, die zu dieser Zeit für etwa eine Mark pro Tag zwischen elf und zwölf Stunden arbeiten mussten. Weil die alten Lieder für diese neue, sich gerade gründende Arbeiterjugend nichts taugten, mussten neue her – und so hat der Bremer Lehrer Heinrich Eildermann im Jahre 1907 ganz nebenbei einen Welthit geschrieben, der später in nahezu alle Sprachen der Welt übersetzt wurde: „Dem Morgenrot entgegen!“

Das Lied auf die Melodie des Andreas-Hofer-Liedes hatte er aus Angst um seinen Arbeitsplatz unter dem Pseudonym „Heinrich Arnulf“ veröffentlicht. Erstmals gedruckt wurde es 1910 als das „Lied der Jungen“. Bald darauf schrieb ihm sein Kollege Emil Sonnemann auf einer Ansichtskarte: „Lieber Heinrich! Heute sangen in Essen siebentausend junge Arbeiter Dein Lied. Das hättest Du erleben müssen.“ Unter dem Titel „Die junge Garde“ verbreitete sich es sich rasch und wurde bald weltweit gesungen. 1922 wurde es ins Russische übersetzt und zur Hymne der Jugendorganisation der Sowjetunion, die einst vierzig Millionen Mitglieder zählte.

ZUM NACHSINGEN

Dem Morgenrot entgegen, Ihr Kampfgenossen all! Bald siegt ihr allerwegen, Bald weicht der Feinde Wall! Mit Macht heran und haltet Schritt! Arbeiterjugend? Will sie mit? |: Wir sind die junge Garde Des Proletariats! :|Wir haben selbst erfahren der Arbeit Frontgewalt in düstren Kinderjahren und wurden früh schon alt. Sie hat an unserm Fuß geklirrt, die Kette, die nun schwerer wird. |: Wir sind die junge Garde Des Proletariats! :|Die Arbeit kann uns lehren und lehrt uns die Kraft, den Reichtum zu vermehren, der unsre Armut schafft. Nun wird die Kraft, von uns erkannt, die starke Waffe unsrer Hand! |: Wir sind die junge Garde Des Proletariats! :| Wir reichen euch die Hände, Genossen all, zum Bund! Des Kampfes sei kein Ende, eh‘ nicht im weiten Rund der Arbeit freies Volk gesiegt und jeder Feind am Boden liegt. |: Vorwärts, du junge Garde Des Proletariats! :|

(Melodie nach: „Zu Mantua in Banden“)

Eildermann war damals SPD-Mitglied, wurde später Kommunist, wegen Hochverrats angeklagt aber nicht verurteilt. Die Verfolgung durch die Gestapo überlebte er. 1945 ging er als Lehrbeauftragter für Soziologie an die Universität Dresden, wo er 1955 mit 75 Jahren verstarb.