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Archiv-Artikel

Sogar die Oma hat sich weggesetzt

RITEN An Silvester gerät die Welt aus den Fugen, aus Kumpel werden Lover. Ein Absturz in fünf Etappen

VON LEA STREISAND

1. Die Welt geht unter

Der Mond ist fast voll. „Guck nich nach rechts!“ Die alten Mauern werfen die Worte zurück, im Hof kracht es, mir wird schlecht. Zu meiner Rechten ist kein Dach, nur gähnender Abgrund. Links erstrecken sich läppische zwei Meter Fläche, begrenzt von etwas, das vielleicht mal eine Mauer werden sollte. Man könnte sich beim Runterfallen noch mal schön die Schienbeine dran aufschrammen, zu mehr sind die drei Reihen Ziegel nicht gut. Die alte Leiter klappert unter mir, als meine Knie sie in Schwingung versetzen. Ach du Scheiße! Dabei hat das Blei mir versprochen, dass ich nächstes Jahr ganz viel Sex haben werde. Alle waren sich einig, dass das Gebilde, das ich aus dem Wasser zog, weder ein Regenwurm noch der schiefe Turm von Pisa war. Schwachsinn! Nicht mal die Jungs von der BSR werden mich noch mal angucken, bevor sie übermorgen die Fragmente meines zerschmetterten Körpers zusammen mit dem andern Dreck im Hof entsorgen. Butterbeine schlackern auf Dachpappe. „Komm hier rauf“, ruft Henne, „man sieht die ganze Stadt.“ Majestätisch erhebt sich vorn eine weitere Leiter, unendlich hoch, wie mitten in den schwarzen Himmel hinein. Mir wird schlechter. „Vergiss es“, hauche ich, der Ohnmacht nahe. Auf allen Vieren robbe ich über die schräg abfallende Todesrampe und gehe hinter einem Schornstein in Deckung, zur Verteidigung nur einen Piccolosekt in der Jackentasche. Um null Uhr geht die Welt unter, der Mond versinkt in Schwefelschwaden, eine Taube fliegt um ihr Leben, Henne brüllt. Prost Neujahr!

2. Weiter tanzen

„Wir hätten gleich ins Knaack fahren sollen“, nörgelt Hennes Derzeitige. Henne wirft gelangweilt einen Böller nach dem andern in den Gulli. Besetzte Taxis rauschen an uns vorbei. Ein Mädchen verliert ihren Schuh. Im Knaack ist es warm und laut und lustig. Henne rockt. „Bis sechse mindestens“, schreit er. Versprochen? Versprochen. Es ist halb sechs, als ich einer kleinen Brünetten auf dem Mädchenklo mein Leid klage: „Der hat mich einfach stehen lassen, ohne Bescheid zu sagen, zum dritten Mal in Folge, nachdem er gesagt hat, er bleibt hier. Und seine Freundin hat doch auch gesagt, es ist okay.“ Die Brünette patscht mir mitleidig auf die Schulter und erzählt, dass ihr Freund auch lieber mit seinen Kumpels feiern wollte. Ich patsche zurück. Eine Discoqueen stolpert aus der Kabinentür. Sie blickt in die Runde, dann lallt sie mit einer ausladenden Handbewegung: „Wer uns stehen lässt, ist sowieso bescheuert.“ „Schon richtig“, bestätige ich, gerührt von so viel Anteilnahme, „aber er ist doch mein bester Freund.“ Die zweite Kabine öffnet sich. Eine glitzernde Schönheit hebt die müden Lider: „Versteh ich nich“, sagt sie zum Waschbecken, „such dir doch’n andern.“ Die Brünette versteht mich: „Bei ihr geht’s nich ums Ficken!“ Die Schönheit wischt ihrem Spiegelbild die Tusche aus den Falten: „Ich sag’s ja: Versteh ich nich!“ Schließlich einigen wir uns auf den kleinsten und trivialsten gemeinsamen Nenner (Männer sind Schweine) und tanzen zusammen weiter. Das Leben kann so einfach sein.

3. Der Kumpel kommt

Der Alexanderplatz liegt da, fast unschuldig um halb acht Uhr morgens. Ich bekomme große Lust, mich dazuzulegen. Der Bäcker an der U 2 hat noch geschlossen. „Halbe Stunde“, gähnt die Verkäuferin hinter einem Stapel Paletten hervor. Ein Auto hält und lädt meinen arbeitstätigen Kumpel ab. Noch ist es dunkel. Im Kaffee Burger bleibt es das auch. „Jetzt weiß ich, was Resteficken bedeutet“, ruft der Kumpel und windet sich aus den Armen einer Mittelalten. Ein Zwerg mit schiefer Brille wackelt unter meinem ausgestreckten Arm hindurch, während eine Halbglatze mir derart entschlossen an den Hintern grapscht, als würde er eine unreife Zitrone auspressen. Der Kumpel schiebt ihm daraufhin das Knie zwischen die Beine und schwoft mit ihm eine Runde. Die Halbglatze ist’s zufrieden.

4. Sinnentleertes Elend

Wie ein Steinhagel erschlägt uns die Nachmittagssonne. Ein älteres Ehepaar läuft zügig weiter. Ein besorgter Kindsvater will seinen Sprößling für den kahlen Baum am Straßenrand begeistern. „Guck mal da!“ Äußere und innere Werte müssen an uns gerade eine hervorragende Symbiose abgeben: nichts als sinnentleertes Elend. In der U-Bahn begegnen uns ein Cowboy und seine Biene. „Sehn wir auch so aus“, frage ich den Kumpel. Er wackelt charmant den Kopf hin und her, die übrigen Fahrgäste sind anderer Meinung. Sogar die Oma hat sich weggesetzt.

5. Alles tut weh

Es ist dunkel, als ich aufwache. Der Vollmond scheint zum Fenster herein. Die Uhr zeigt eins. Ich überlege, ob es eine Stelle an meinem Körper gibt, die nicht wehtut. Ergebnis: null. Sodann versuche ich mich zu lokalisieren. Dieses Bett kenne ich. Auch das Regal und den Tisch da. Aber die Perspektive stimmt nicht. Ich rufe probehalber den Namen des Kumpels. Als der zur Tür hereinkommt, schließe ich aus der Anzahl Kleidungsstücke, die er am Leib trägt, dass ich ihn jetzt wohl als ehemaligen Kumpel bezeichnen kann. Sie entspricht der Menge meiner unversehrten Körperteile. „Kaffee?“, fragt der ehemalige Kumpel. Mein Magen protestiert. Ich stimme zu. Als das Wasser in der Küche rauscht, kehren die Erinnerungen zurück. Ob ich ihnen trauen kann, weiß ich nicht. Ein schnarrendes Geräusch durchdringt meine Denkversuche. „Telefon“, ruft es aus der Küche. Stöhnend rolle ich über die Matratze. Langsam, Stück für Stück, Zentimeter für Zentimeter. Meine Hand streckt sich, zerrt am Arm, will das lärmende Gerät auf dem Tisch greifen, hat es fast, langt daneben … Auf dem Boden liegend presse ich den Hörer ans Ohr. „Henne?“ Aufgelegt.

■ Aus Lea Streisands „Wahnsinn in Gesellschaft“, Periplaneta Berlin, Edition Mundwerk 2010. Im Februar 2012 erscheint Streisands neues Buch „Berlin ist eine Dorfkneipe“