„Kriminalisierung hilft nur der Gewalt“

BAD GUYS Ein Gespräch mit dem Autor Don Winslow, der die unvorstellbaren Grausamkeiten im Drogenhandel kennt

■ Don Winslow, 58, studierte Geschichte, arbeitete als Kinochef und Privatdetektiv und schrieb in den Achtzigern seinen ersten Roman. Sein Roman „Tage der Toten“ (Suhrkamp, 2010), grandios recherchiert und so brutal wie faszinierend erzählt, umspannt die 30 Jahre von 1975 bis 2004. Er beschreibt eine Welt, in der Drogengeschäfte die treibende Kraft hinter Politik und Wirtschaft sind. Don Winslow lebt mit seiner Frau und deren Sohn in Kalifornien.

INTERVIEW PATRICIA HECHT

taz: Mr. Winslow, Sie leben in San Diego, USA nahe der mexikanischen Grenze und haben mit „Tage der Toten“ einen internationalen Bestseller vorgelegt. Was war der Anlass für Sie, über den Drogenkrieg zu schreiben?

Don Winslow: Das Setting ist gewissermaßen vorgegeben, ich lebe darin. Die Zeitungen hier sind jeden Tag voll vom „War on Drugs“, unsere Leben sind voll davon. Darüber hinaus gab es sogar einen bestimmten Auslöser: Vor etwa zehn Jahren wurden 19 Menschen in einer kleinen Stadt in Mexiko umgebracht, in der wir immer mal unser Wochenende verbrachten – Frauen und Kinder, ein Massaker. Wie kann so etwas passieren? Wie kann irgendetwas zu einem Punkt kommen, an dem so etwas möglich ist? Ich fing an zu recherchieren, ohne anfangs vorzuhaben, ein Buch darüber zu schreiben. Aber die Beschäftigung mit dem Thema wurde bald zu einer Art Obsession.

Wieso wurde schließlich ein Roman daraus und keine journalistische Arbeit?

Romane können auf eine Art und Weise die Wahrheit erzählen, wie es Journalismus nicht kann. Journalistisch wurde viel über den War on Drugs geschrieben, großartige Arbeiten. Aber es gab nichts, was das Sein, die Seele des Ganzen beschrieb. Schriftsteller haben die Freiheit, in die Köpfe der Menschen zu sehen. Ich dachte, das würde es brauchen, um den War on Drugs tatsächlich zu beschreiben.

Sie haben für „Tage der Toten“ fast sechs Jahre lang über das Geschäft mit den Drogen recherchiert. Konnten Sie mit Drogenbossen sprechen?

Nicht mit den ganz großen. Aber mit, sagen wir, einigen auf einem mittleren Level. Ich fing klein an und hing einfach in den Vierteln herum, in denen gedealt wurde, bis die Leute mich kaum noch als Fremdkörper wahrnahmen. So konnte ich Kontakte knüpfen.

War das gefährlich?

Nicht wirklich. Ich bin sehr ehrlich mit meiner Arbeit umgegangen. Meine Gesprächspartner waren sich im Klaren darüber, dass es um Fiktion ging, nicht um Journalismus. Außerdem haben wir uns an neutralen Orten getroffen. Die Leute, die wirklich gefährlich leben, sind die Journalisten in Mexiko und Zentralamerika, das wurde leider mehrfach deutlich. Übrigens war es schwieriger, Antworten von Polizisten und Regierungsbeamten zu bekommen, als von der anderen Seite.

Was machen Drogen mit Ihren Figuren?

Sie zerstören letztlich jeden. Viele fangen mit dem Dealen an und glauben, sie könnten sauber bleiben und mit dem ganzen Blutvergießen nichts zu tun haben. Aber das Geschäft holt sie ein. Und irgendwann sehen sich dieselben Leute Dinge tun, von denen sie niemals geglaubt hätten, dass sie dazu in der Lage wären. Das zerstört ihre Seele. Auf offizieller Seite sieht es nicht viel besser aus. Die Cops drehen sich im Kreis. Heute bringen sie einen Kartellboss hinter Gitter – na und? Morgen sitzt da ein neuer. Die haben nie das Gefühl, ihre Arbeit hätte irgendeinen Sinn. Und noch dazu sehen sie die Bad Guys richtig viel Geld machen, das sie selbst niemals verdienen werden, und einen Lifestyle führen, den sie selbst niemals haben werden. Das demoralisiert und korrumpiert alle.

In Ihrem Roman kommt nur eine einzige handelnde Frau vor, eine Mischung aus Hure und Heilige. Welche Rolle spielen Frauen im Drogengeschäft?

Das Geschäft ist männerdominiert, aber der Einfluss der Frauen wird größer. Das ist vor allem deshalb so, weil viele Männer tot sind. An der Spitze eines der größten Kartelle in Mexiko steht heute eine Frau – früher waren ihre sechs Brüder für das Geschäft zuständig.

Weltgeschichte, wie Sie sie beschreiben, wird an Grenzübergängen, in den Hinterzimmern mexikanischer Kneipen oder auf stillgelegten Flughäfen gemacht. Hinter fast allen großen politischen Ereignissen und Affären stehen in Ihrem Roman Drogengeschäfte. Wie real ist das?

Wenn man einen Blick zurückwirft in die vergangenen Jahrhunderte, gab es immer bestimmte Substanzen, die die Macht hatten, den Lauf der Geschichte zu ändern und Politik und Wirtschaft zu beherrschen. Zuerst waren das Gewürze, dann war es das Gold, noch immer ist es das Öl. Und in großem Umfang sind es Drogen. Der Wert der Drogengeschäfte beträgt allein in Nordamerika 39 Milliarden Dollar jährlich – dazu kommt noch mal so viel, um das Ganze zu bekämpfen. Diese Summe hat immensen Einfluss auf Wirtschaft und Politik.

Inwiefern?

In der Immobilien- und Baubranche steckt viel Drogengeld. Und manche Städte und Dörfer vor allem im nördlichen Kalifornien sind völlig vom Marihuanaanbau abhängig. Was die Politik angeht, gibt es vor allem zwei Aspekte. Erstens kann ein Geschäft dieser Größenordnung nicht ohne korrupte Politiker existieren. Und zweitens: Etwa dieselbe Summe, die mit Drogen verdient wird, wird in etwas gesteckt, was ich die Antidrogenindustrie nenne. Die Politik muss das schützen und aufrechterhalten. Einer der wenigen wachsenden Industriezweige während dieser Krise in den Vereinigten Staaten ist der Bau von Gefängnissen. Etwa 70 Prozent der Insassen sitzen wegen Vergehen, die mit Drogen zu tun haben oder unter Drogeneinfluss begangen wurden. Das ist ein ziemlich trauriger Kommentar.

Setzt denn ein Umdenken über Drogen ein?

Langsam, aber sicher, ja. Unsere Gesellschaft beginnt in Betracht zu ziehen, dass Drogen weniger unter kriminellen als unter gesundheitlichen Gesichtspunkten diskutiert werden sollten. Den Leuten fallen sowohl die immensen Kosten des War on Drugs auf als auch die Erfolge, die er mit sich gebracht hat: keine. Wie ist das denn in Berlin? Bekommen Sie dort Drogen?

Ja, so ziemlich alle.

So ist das hier auch – und das, Jahrzehnte nachdem Richard Nixon diesen Krieg erklärte. Drogen sind heute billiger und mächtiger denn je. Der einzige Effekt des War on Drugs ist, dass es die großen Kartelle in Mexiko und Kolumbien gibt, die Milliarden machen und keine Grenzen kennen, was die Anwendung von Gewalt angeht. Sogar einige Politiker der konservativen Rechten geben das zu. Wir müssen den Umgang mit Drogen neu denken. Dazu gehört auch, dass wir uns im Klaren darüber sein sollten, dass das größte Drogenproblem der USA absolut legale Drogen betrifft: Da geht es um Alkohol, Tabak und rezeptpflichtige Tabletten. Illegalität lässt nur die Preise in die Höhe schnellen und das Ausmaß der Gewalt wachsen.

Ist eine Welt ohne illegalisierte Drogen vorstellbar?

Es wird immer einen illegalen Arm von so gut wie jedem Handel geben, vom Handel mit Bluejeans auch. Solange es Steuern gibt, werden Menschen versuchen, sie zu umgehen. Aber das Ausmaß illegalen Drogenhandels könnte extrem reduziert werden. Damit einhergehend würde auch der horrende Level der Gewalt verringert, der dem Drogenhandel eigen ist. Momentan machen wir aus Psychopathen Milliardäre – weil in einer Welt, in der Gewalt regiert, der Gewalttätigste gewinnt.

Was wären die ersten Schritte zu einer Alternative?

Auf manche Fragen gibt es keine guten Antworten, nur weniger schlechte. Wenn ich König wäre, würde ich sofort Marihuana legalisieren. Danach sollten andere Drogen entkriminalisiert werden, sowohl der Handel als auch der Konsum. Das Katz-und-Maus-Spiel müsste aufhören, und die Polizei müsste sich mit Dingen beschäftigen, die wirklich wichtig sind. Die unvorstellbaren Summen von Geld, die frei würden, müssten ins Bildungs- und Gesundheitssystem gesteckt werden. Voraussichtlich gäbe es einige negative Effekte der Legalisierung. Der Konsum würde wohl zunächst steigen, was etwas Panik auslösen würde. Aber ich denke, er würde genauso schnell wieder sinken.

Hat es kulturelle Gründe, dass Alkohol legal ist und Marihuana nicht?

Es hat kulturelle und ökonomische Gründe – und außerdem hat es mit Herkunft und Hautfarbe zu tun. Wenn Sie genug Wodka verkaufen und dann einer Partei Geld spenden, werden Sie ins Weiße Haus eingeladen. Das passiert Ihnen bestimmt nicht, wenn Sie mit Marihuana dealen. Das weiße Mittelklasseamerika hat Alkohol immer befürwortet, deshalb wird er protegiert. Bei anderen Drogen wie Marihuana oder Kokain ist das nicht der Fall. Die Drogen, um die es im War on Drugs geht, sind Drogen, die häufig von Schwarzen konsumiert und verkauft werden.

Sie beschreiben fast unvorstellbare Grausamkeiten, die im Namen von Drogen begangen werden. Wie stehen Sie selbst zum Konsum bewusstseinserweiternder Drogen?

Ich mag sie schlicht und einfach nicht. Ich hasse den Effekt, den sie auf Innenstädte, auf Straßenzüge, auf Familien haben. Ich trinke nicht mal. Ich bin einigermaßen süchtig nach Koffein, und das war’s. Trotzdem bin ich der Meinung, dass Drogen entkriminalisiert und legalisiert werden sollten. Wir als Gesellschaft haben das Recht, uns mit den Folgen zu beschäftigen, die der Konsum haben könnte. Aber keine Regierung hat das Recht, erwachsenen Menschen vorzuschreiben, was er oder sie raucht oder schnupft oder drückt.

Hat Sie Ihr Wissen um Drogen verändert?

Auf jeden Fall. Meine Recherchen zum War on Drugs haben meine Sicht auf die Dinge auf sehr traurige und beängstigende Weise verändert. Die Erkenntnis etwa, wie eng das Zusammenspiel von Politik, Geheimdiensten und Drogen ist. Das ist ja schon historisch, bereits während der Prohibition haben korrupte Politiker mit der Mafia kollaboriert, die riesige Mengen Geld mit dem Verkauf von illegalem Alkohol gemacht hat. Man findet in der US-amerikanischen Geschichte kaum einen Politiker mit Einfluss, der eine weiße Weste hat. Die Recherchen haben mich skeptischer, zynischer werden lassen.