: I N T E R V I E W „Ihr Schicksal in Gottes Hand“
■ „Ein Teil der Bevölkerung kennt nicht einmal das Symbol für Radioaktivität“ / Margot Riemann, deutsche Pädagogin an der Universität Goiania, zur Lage nach dem Strahlen–Unfall
taz: Margot, wie ist die Situation in Goiania vier Wochen nach dem Unfall? Margot Riemann: Die Bevölkerung, also die einfachen Leute hier sagen, sie legen ihr Schicksal in Gottes Hand. Die aufgeklärteren Menschen sind sehr besorgt und es wird viel diskutiert. Worüber wird diskutiert? Ob die Lage wirklich unter Kontrolle ist, wie dies die Regierung behauptet. Wir haben jetzt acht bekannte Stellen mit verseuchten Häusern und Höfen, aber fast jeden Tag werden andere, kleinere verseuchte Stellen gefunden. Die Arbeiter, die das verseuchte Material in Fässer einfüllen sollen, arbeiten jetzt nicht mehr, weil man nicht weiß, wohin mit den Fässern. Hat die Bevölkerung noch Angst vor einer Verseuchung? Man traut der Regierung nicht und den offiziellen Angaben, aber von einer Panik ist nichts zu spüren, eher von Resignation. Die Menschen meinen, daß es ein Unglück mehr ist, was hier passiert ist. Es gibt ja schon genug Elend tagtäglich. Hast Du den Eindruck, daß eine offene Berichterstattung und Information stattfindet oder wird das Ausmaß des Unfalls vertuscht? Die Berichterstattung ist einigermaßen in Ordnung, aber man traut den Behörden trotzdem nicht, und dafür gibt es viele Gründe. Der erste Punkt ist, daß es möglich war, daß die Cäsium–Kapsel vier Jahre lang unbewacht auf einem verlassenen Gelände liegen konnte. Zum zweiten konnte diese Kapsel gestohlen werden. Da wurde mehrere Monate an dem Bestrahlungsgerät gearbeitet, um es aufzubrechen und die Teile zu verkaufen. Es existierte keinerlei Kontrolle, gar nichts. Erst als die Betroffenen krank wurden, wurde alles aufgedeckt. Dieser Unfall macht sehr deutlich, daß Brasilien nicht mit radioaktivem Material und überhaupt mit extremen Gefahrstoffen arbeiten kann. Die Bevölkerung weiß nichts, sie ist nicht vorbereitet. Als die Katastrophe da war, hat sich außerdem gezeigt, daß die Regierung und die Behörden nicht in der Lage sind, mit solch einem Unfall fertig zu werden. Es wird zum Beispiel befürchtet, daß auch viele von den Helfern und Technikern, die jetzt das verseuchte Material wegschaffen, krank werden, weil sie nicht ausreichend geschützt sind. Und selbst jetzt ist die Bewachung sehr schlecht. Aus einem der hochverseuchten Häuser, die leerstehen, wurde ein Fernseher und ein Radioapparat gestohlen. In einem Aufruf wurde jetzt an die Diebe appelliert, die Geräte zurückzugeben, weil sie verseucht sind. Die Bevölkerung kennt ja zum Teil nicht einmal das Symbol für Radioaktivität, sie weiß nicht, was das bedeutet, sie kann nicht lesen, weil viele Analphabeten sind. Ist der Unfall immer noch das wichtigste Gesprächsthema? Ja, das ist er. Die Zeitungen berichten ausführlich, wobei allerdings die einzige lokale Zeitung hier in der Stadt sehr im Interesse der Regierung berichtet. Die Presse von außerhalb hat dagegen sehr viele kritische Fragen gestellt und so das Mißtrauen der Leute noch verstärkt. Hast Du mit Deiner Familie überlegt, ob ihr die Stadt verlaßt? Ja, wir haben überlegt wegzuziehen. Und der Unfall hat jetzt den Ausschlag dafür gegeben, daß wir nächstes Jahr von hier weggehen werden. Interview: Manfred Kriener
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