High-Tech-Spionage

■ Industriespionage östlicher Geheimdienste in westlichen Betrieben

Das Klischee vom Spion im Ledermantel und mit Schlapphut ist passe. Nur noch in schlechten Thrillern trifft sich der östliche Agent mit seinem Informanten hinter einem Friedhofskreuz, um geflüsterte Berichte entgegenzunehmen. Heute verläuft die Spionage längst als systematisch betriebenes Geschäft. Die Mitarbeiter der Ost-Berliner und Moskauer Geheimdienste suchen nicht nach zufälligen Informationen. Sie sammeln vielmehr äußerst fleißig und höchst konzentriert Firmenberichte, Konstruktionszeichnungen und Test-Unterlagen, die von ihren Auftraggebern anschließend im Blitztempo ausgewertet werden. „Das geschieht sehr schnell, sehr präzise und sehr gründlich“, weiß Heribert Hellenbroich, der frühere Präsident des Bundesnachrichtendienstes.

Über seine Erkenntnisse vom Alltag der Spionage berichtete Hellenbroich am Montag während eines vom Verein zur Anwendung neuer Technologien (NCG) veranstalteten Seminars zum Thema „Industriespionage - ein Alptraum?“ Wie ernst das Problem inzwischen geworden ist, zeigen vom Veranstalter verbreitete Zahlen: Danach entsteht in der Bundesrepublik durch Industriespionage im Bereich der Hochtechnologie ein jährlicher Schaden von rund acht Milliarden Mark, ein Betrag, fast doppelt so hoch wie der Etat der jährlichen Forschungsförderung von Bund und Ländern. Außerdem hat die Industrie- und Wissenschaftsspionage seit 1986 neue Dimensionen gewonnen: Sie verdrängte die klassische Militärspionage auf den dritten Platz und ist jetzt nach der politischen Ausforschung zum zweitwichtigsten Thema für die Abwehr geworden.

Daß vor allem die UdSSR und die DDR das „Klau-How-Geschäft“ (so die Veranstalter) trotz „Glasnost“ und „Perestroika“ weiterhin äußerst gründlich betreiben, zeigte Hellenbroichs Analyse der Strukturen der östlichen Nachrichten -Beschaffung. Sowohl in Ost-Berlin als auch in Moskau existieren zentrale Organisationen, in denen sämtliche Informationen zusammenfließen - unabhängig davon, ob sie auf legalem oder illegalem Weg beschafft wurden. In diesen Zentralen vergleichen Experten die Ergebnisse der Ausforschung miteinander und geben sie an die interessierten Industriebetriebe weiter. Fehlt eine entscheidende Information, erhalten die Spione vor Ort den Auftrag, ein ganz bestimmtes Dokument zu besorgen.

In den westdeutschen Unternehmen sind vor allem zwei Arten von Spionen tätig: Gutausgebildete DDR-Bürger, die für den brisanten Auslandsjob jahrelang geschult wurden, sowie bundesdeutsche Techniker und Manager, denen die Agentenwerber ein spannendes Leben versprochen haben. Die Spione aus dem Osten täuschen entweder eine Flucht über Mauer und Stacheldraht vor oder kommen als legal Ausreisende in den Westen. Dank ihrer guten Ausbildung und hohen Leistungsbereitschaft machen sie meistens schnell Karriere und gelangen an die Schaltstellen ihrer Betriebe. Bei den bundesdeutschen Spionen handelt es sich dagegen häufig um Angestellte im mittleren Management, die bei Beförderungen übergangen worden sind oder die an ihrem Arbeitsplatz zu wenig Anerkennung finden. „Oft handelt es sich um den Ingenieur in der Forschungsabteilung“, sagt Hellenbroich. „Er weiß alles und kann alles erklären.“

Jenseits des Eisernen Vorhangs ist die Spionage längst ein wichtiger Wirtschaftszweig geworden. Der Moskauer Geheimdienst KGB verfaßte für seine Mitarbeiter ein „Rotes Buch“ mit 27 Kapiteln, in denen fein säuberlich die Beschaffungsprioritäten der sowjetischen Industrie aufgelistet sind. In der DDR appellierte der Staatssicherheits-Minister Erick Mielke 1985 an seine Agenten, den „volkswirtschaftlichen Leistungsanstieg“ stets im Auge zu behalten.

Ost-Berlin läßt sich inzwischen die Arbeit seiner Kundschafter sogar bezahlen: Die Volkseigneen Betriebe müssen für die von Spionen organisierten technischen Informationen etwa 10 Prozent des geschätzten Nutzwertes auf das Konto der Geheimdienste überweisen - jährlich rund 300 Millionen Mark (Ost). „Und was dort der Nutzen ist, ist bei uns der Schaden“, rechnet Hellenbroich vor.

Dieter Stäcker