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So einfach ist das

■ Zwei Kölner Konzerte mit Werken von Steve Reich rekapitulierten den Weg des Minimalisten

Vor über 20 Jahren begannen einige Musiker, mit bestrickend einfachen Mustern der zeitgenössischen Musik ein neues Kleid zu verpassen. Manchen schrillen Fummel zog sich die alte Dame in der Zwischenzeit über, doch der Minirock der Sechziger ist immer noch in Arbeit und wächst sich zum persischen Teppich aus. Den Stand der Dinge bei Steve Reich, einem der führenden Minimalisten, zeigte der Kölner WDR in zwei aufeinanderfolgenden Konzerten mit dem Ensemble Modern.

Für die Anhänger der reinen Minimalisten-Lehre erinnerte Four Organs an den Steve Reich der frühen Jahre. Wie auf einer spiritistischen Sitzung sitzen die vier Spieler an einem schwarzen Tisch, darauf liegen die elektronischen Orgeln. Eine Maraca-Spielerin (Rumi Ogawa-Helfrich) gibt den Zeitpuls, während die Organisten einen pulsierenden Akkord dehnen, indem sie allmählich den Rhythmus verändern. Wie bei Drumming und anderen Stücken ist die Musikalität weniger Resultat der Komposition als der Reibung, die sich im Zusammenwirken der rhythmischen Muster ergibt.

Nach zehnjährigem Stricken an dieser komplexen Einfachheit und musikalischer Identitätssuche in Afrika und Asien entdeckte Reich seine jüdische Herkunft. Er wechselte das Hemd, wurde orthodoxer Jude und fand seine musikalische Nahrung in der Thora. Alles wäre vielleicht beim alten geblieben, hätte der Psalm, den er für sein neues Stück auserwählt hatte, nicht ihn auserwählt und ihm die Bedingungen gestellt: „Ich brauche eine Melodie, keine wiederholten Muster. Falls du es nicht kannst, dann geh, dann brauche ich dich nicht.“ Er konnte wirklich keine Melodie schreiben. So erdachte der clevere Arrangeur kleine filigrane Muster und nannte sie Melodie. Das Resultat hieß Tehellim, es folgte eine Reihe von Stücken im gleichen Verfahren: Über eine starre rhythmische Grundstruktur bewegen sich flinke kleine Motive, die sich zusammenfügen wie eine arabische Miniatur. Eines dieser gefälligen Kleinkunst-Stücke ist Electronic Counterpoint, 1987 für Pat Metheny geschrieben. Es spielen mit: ein Tonband, auf dem zehn Gitarren und zwei elektrische Bässe aufgenommen wurden, dazu der virtuose Gitarrist David Tannenbaum mit den komplexen rhythmischen Figurationen der elften Gitarrenstimme.

In diesem Jahr hat Steve Reich seinem Musterkatalog eine neue Dimension hinzugefügt. Die Samplertechnik ist sein Spielzeug der Zukunft, das erste Stück heißt Different Trains und ist für das auf Zeitgeist abonnierte Kronos Quartett geschrieben. Reich ruft darin Erinnerungen wach an mehrere Zugreisen von New York nach Los Angeles in den Jahren zwischen 1939 und 1941, die von seinem ehemaligen Kindermädchen erzählt werden. Zur gleichen Zeit wurden Kinder in Deutschland mit dem Zug deportiert. Der Komponist sammelte für sein Stück Tonbandprotokolle mit den Stimmen ehemaliger Auschwitz-Kinder und mit Geräuschen europäischer Züge. Für den US-Teil benutzte er amerikanische Zugpfeifen, die Stimme seines Kindermädchens und die eines ehemaligen Schlafwagenschaffners.

Das Ensemble Modern spielte bei der Kölner Aufführung in doppelter Quartettbesetzung. Man hörte die gesampleten Sprachfragmente und die Instrumentalstimme, die die Sprachmelodie nachahmt: ein Wechselspiel von Frauen und Männerstimmen, eine Unterhaltung zwischen Geige, Viola und Cello, dazwischen immer wieder das Zugpfeifen, als hätte die West Side Story„Pate gestanden.

Der zweite Teil: NS-Deutschland. Im Prinzip dasselbe, und doch klingt es anders. Die Stimmen sind verwaschen, dunkler, die Instrumente klingen bedrohlicher. Dazwischen Zuggeräusche, die an Schneidbrenner erinnern, Sirenen. Die Mächte der Finsternis verschwinden. Dritter Teil: Der Holocaust ist zu Ende, die Klänge werden wieder heller, die melodischen Sprachschleifen wieder heiterer. Nach Auschwitz ist Amerika, das Land der Freien, in Sicht. Doch die Erinnerung bleibt. In diesem Stück ist es die Erinnerung an ein Mädchen, das in Auschwitz den Deutschen vorsingen mußte, und wenn sie aufhörte zu singen, verlangten sie „mehr, mehr und klatschten Beifall“. Dazu verwandelte Steve Reich seine musikalischen Sprachtranskriptionen in pathetische, choralartige Patterns. Der Komponist befindet über sein Werk: „Es hat eine Authentizität. Ich brauche mir keine Sorgen zu machen, wenn ich die Stimme dieser Frau nehme, die nach Auschwitz ging, ob ich etwas falsch mache oder etwas Dummes mache. Kein Problem, denn ich repräsentiere ihre wirkliche Melodie.“ So einfach ist das.

Clair Lüdenbach

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