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Aufklärung und Gegenaufklärung

■ Die Zukunft der Aufklärung - Die Zukunft der Vernunft“ Eine Tagung im Goetheinstitut in Turin

Es gibt sie jetzt in jedem Dorfgemeinschaftshaus, die Debatte über das „Ende der Aufklärung“, über die „Selbstzerstörung der Vernunft“. Protagonisten sind Professoren der Philosophie, die entweder das ökologische Desaster als Beleg für den zerstörerischen Charakter der real existierenden Aufklärung heranziehen oder aber darauf hinweisen, daß nur eine über sich selbst aufgeklärte Aufklärung eine wirkliche Aufklärung ist, daß ihre Fehler nur die rationale Vernunft selbst beheben kann.

Im Goethe-Institut in Turin, an der Piazza San Carlo, einem der Zentren der europäischen Aufklärung, trafen sich Anfang des Monats Gelehrte und Professoren aus der Bundesrepublik und Italien, um dem Thema wieder einmal auf den Leib zu rücken. Aber die Debatte, die u. a. mit Gianni Vattimo und Rüdiger Bubner, Johan Baptist Metz und Salvatore Veca auf die bekannten Spuren gesetzt worden war, bekam einen anderen Dreh.

Das ist das Verdienst Franco Venturis. 1914 in Rom geboren, unterrichtete er lange Jahre moderne Geschichte an der Universität Turin. Von seinem Hauptwerk „Settecento riformatore“ liegen inzwischen sechs sehr umfangreiche Bände vor. Es ist meines Wissens die umfangreichste Geschichte der italienischen Aufklärung. Venturi hatte Mitte der 60er Jahre in der frühen bundesrepublikanischen Studentenbewegung einen gewissen Bekanntheitsgrad. Eine amerikanische Paperbackausgabe seines Buches „Il Populismo russo“ zirkulierte, aus der man alles erfahren hatte, was man über die russischen Volkstümler und auch den terroristischen Untergrund des zaristischen Rußland wußte. Franco Venturi ist heute einer der bekanntesten Historiker der europäischen Aufklärung. Auf Kongressen ist er selten zu sehen.

Auf der Turiner Tagung erinnerte er immer wieder an einen scheinbar selbstverständlichen Tatbestand: die Aufklärung ist eine politische Bewegung. Wann immer die Debatte in die großen Allgemeinheiten philosophischer Erörterungen abschweifte, versuchte er daran zu erinnern, daß die Aufklärung nicht der Gang der Vernunft durch die Geschichte, sondern der Kampf der Vernünftigen gegen sie war.

Sein Referat, reich an Exkursen und scheinbaren Abschweifungen, beschäftigte sich mit der Art wie über die Geschichte der Aufklärung geschrieben wird in den letzten fünfzig Jahren. Dabei war der mal ausgesprochene, mal verschwiegene zentrale Gegenpol seiner Arbeit die französischen Sozial- und Mentalitätshistoriker der Schule der „Annales“.

Es sei kein Zufall, daß ihre führenden Vertreter sich nicht mit der Aufklärung beschäftigten. Ihr ganzes Forschungsprogramm widerspreche dem eminent politischen Charakter der Aufklärung. Fernand Braudel, Georges Duby und die anderen legten den Akzent auf das, was über lange Zeit bleibe, betonten die Schwerfälligkeit des Ganges der Veränderung.

Die Aufklärung dagegen sei von der Veränderbarkeit der Welt überzeugt gewesen. Die moderne Politik und ihr Medium - die öffentliche Meinung - ist ein Produkt der Aufklärung. Die Gewißheit, daß alle Bereiche des menschlichen Lebens neu und vernünftig eingerichtet werden können, daß nichts einfach nur Sitte und Überlieferung folgen darf, das ist aufklärerisch. Wer die Lebensbedingungen der Bevölkerung bessern will, der muß Staudämme, Entwässerungsanlagen und Schulen bauen. Die „Politische Ökonomie“ ist die Wissenschaft der Aufklärung. Die rationale Organisation des Lebens wird erstmals auf gesamtgesellschaftlicher Ebene systematisch angegangen. Das Ganze wird zum Objekt der Verwaltung.

Die Kritik dieser Politischen Ökonomie gehört freilich nicht erst seit Marx ebenso zur Aufklärung wie diese selbst.

Der soziologische Blick der „Annales“ versperrt diesen Historikern die Sicht auf die Wirklichkeit, die politische Realität der Aufklärung. Die kleinen Reformen, die scheinbar geringfügigen Veränderungen - hier wird den Jesuiten der Unterricht verboten, dort eine agrartechnische Innovation eingeführt und die Folter abgeschafft - sind Ergebnisse der Arbeit der Aufklärer. Diese Arbeit ist zu untersuchen - so Venturis nie ausgesprochene Botschaft -, nicht der Begriff der Vernunft, nicht die „Seinsvergessenheit“ nach Parmenides.

In jedem Land war die Aufklärung anders. In Frankreich, so Venturi, werde sie meist als eine literarische, in Deutschland als eine philosophische Bewegung mißverstanden. In Rußland dagegen ist sie wie nirgends sonst eingegangen in die frühe revolutionäre Bewegung. Tschernyschewski z. B. schreibe Mitte des 19. Jahrhunderts so als causiere er um 1750 in einem Pariser Salon. Als Venturi - nicht ohne spöttische Ironie - darauf hingewiesen wird, daß es ihm gelungen sei, ein Referat über die Aufklärung zu halten, ohne die französische Revolution auch nur zu erwähnen, antwortet er mit Hinweisen auf die im Anschluß an Georges Lefebvre ins Zentrum des Interesses gerückten ländlichen Volksbewegungen. Es hätte einen Moment der Zusammenarbeit, einen Augenblick der Verbindung gegeben. Aber nichts sei falscher als die Vorstellung, die Aufklärer hätten die Revolution betrieben.

Immer wieder wurde deutlich, daß Historiker und Philosophen einander nicht verstehen. Für Venturi ist die Aufklärung kein Begriff, sondern ein Name. Im 18. Jahrhundert gab es überall in Europa Männer und Frauen, die waren Aufklärer, lasen einander und korrespondierten mit einander. Sie verfolgten ähnliche Ziele. Sie nannten sich Aufklärer. Für die meisten anwesenden Philosophen dagegen war Aufklärung ein Begriff, dessen Widersprüchlichkeit es im Referat zu entfalten galt. Zwischen beiden Positionen gab es keine Verständigung.

Venturis scheinbar unproblematischer Zugriff auf Geschichte hat den großen Vorteil, auf detaillierte Kenntnisse angewiesen zu sein. Über die Ausweisung der Jesuiten aus dem Piemont kann ich mit allgemeinen Begriffen darüber, daß die Aufklärung nicht nur Feinde hat, sondern sich auch ihr eigener Feind ist, nichts sagen. Wer Venturis Arbeiten kennt, weiß, wie akribisch er solche Dialektiken herausarbeitet, konnte hier in Turin aber auch merken, wie allergisch er aufs flotte Begriffekloppen reagierte. So war sein scheinbar altmodischer Positivismus ein provozierendes Gift gegen die schwer erträgliche Leichtigkeit der Überflieger.

Fast am Ende der Tagung stand ein weiterer Dissident. George Steiner, 1929 in Paris geboren, ist Fellow des Churchill College in Cambridge und unterrichtet an der Genfer Universität Englisch und Vergleichende Literaturwissenschaft. Sein neuestes Buch ist gerade bei Hanser auf deutsch erschienen. „Die Antigonen“. Es beschäftigt sich mit der Geschichte des Antigone-Themas von Sophocles bis Böll.

George Steiner ließ sich nicht ein auf einen zu verteidigenden oder zu kritisierenden Vernunftbegriff. Er stellte seine berühmten einfachen Fragen. Wer hatte Recht? Voltaire, der Mitte des 18. Jahrhunderts erklärte, die Folter werde es nie wieder in Europa geben oder Thomas Jefferson, der der Auffassung war, nie wieder würden zivilisierte Menschen Bücher verbrennen?

Steiner: „Wir wissen heute, das sind infantile Phantasien“, ein Blick in die Geschichte widerlegt diese Aufklärer, ein Blick in unsere Gegenwart macht uns nicht optimistischer. Eine Milliarde Menschen stehen am Rande des Hungertodes, Für Waffen werden pro Tag 900 Millionen Dollar ausgegeben, „während wir hier sitzen, werden ein paar Kilometer vielleicht auch nur Meter weiter - Menschen gefoltert und gequält.“ Unter dem Pol Pot Regime wurden auf Anweisung von Studenten der besten, aufgeklärtesten französischen Universitäten drei Millionen Menschen umgebracht, hunderttausende lebendig begraben.

Ist bei dieser Lage der Dinge optimistischen Propheten zu trauen? Steiner zitierte gegen den aufklärerischen Fortschrittsglauben Joseph de Maistre. Der 1754 in Chambery in Savoyen geborene Graf, wanderte als die französischen Revolutionstruppen 1792 Savoyen eroberten, aus. 1803 bis 1817 war er Gesandter am Zarenhof in St. Petersburg. Er wurde hier einer der Cheftheoretiker der Konterrevolution, setzte sich für eine unumschränkte Diktatur des Papstes ein. Als die Jesuiten 1817 Rußland verlassen mußten, mußte auch Joseph de Maistre aus seinem Exil. Er wurde bis zu seinem Tod 1821 Minister in Turin.

George Steiner zitierte also einen Genius loci als er gegen das aufklärerische Prinzip Hoffnung den finsteren Pessimisten und seine „Petersburger Nächte“ (1821) zitierte: die Folter wird universal werden. Steiner mißtraut der Klarsicht (clairvoyance) der Aufklärer. Er plädiert für eine Nachtsicht (nightvision), die dem Schrecklichen und seiner Unausweichbarkeit ins Auge sieht.

Wer wirklich Schluß machen will mit Krieg, Unterdrückung, Folter und Vernichtung, der muß - so Steiner - weniger die Aufklärer - optimistische Kindsköpfe - als den großen Reaktionär Joseph Marie de Maistre studieren, der seinen bitterbösen Blick auf die menschliche Natur kultivierte und schärfte. Für de Maistre war die Weltgeschichte nicht das Weltgericht, sondern die Strafe, der Folterkeller der - so der strenge Katholik - sündigen Menschheit.

Steiner teilt nicht de Maistres Erbsündetheorie, er begreift sie als - untauglichen - Versuch, das offensichtlich unzähmbar Bösartige, Hinterhältige, Dumm -Gemeine der Bestie Mensch zu erklären; jedenfalls sich nicht darüber hinwegmogeln lassen in eine hellere, angenehmere Ansicht. Die läßt einen immer überrascht und wehrlos vor den Ausbrüchen der mörderischen Gehässigkeit.

Steiner blieb freilich dabei nicht stehen. Er ging zwei Schritte weiter. Einmal pries er de Maistre als einen der bedeutendsten Autoren der Weltliteratur. Er sei einer der größten Denker der europäischen Geschichte, seine Dialoge seien besser als die Platons. De Maistre also nicht einer der verbitterten Ankläger der Moderne, eine komische Figur, die mit siebenhundert Jahren Verspätung noch einmal den Primat des Papstes propagiert, sondern - neben dem - eine der zentralen Gestalten der europäischen Geistesgeschichte, einer, der brillant formulierend der Menschheit den zur Kenntnlichkeit entstellenden Spiegel vorhält. Das der eine Schritt.

Der andere ist eine nur in zwei, drei Nebenbemerkungen aber deutlich genug artikulierte Kritik am aufklärerischen Mainstream. Das Denken gewinne um 1800 selbst eine bedrohliche Gewaltsamkeit. Wie die Musik von Haydn zu Beethoven eine Eskalation der Gewalt darstelle, so auch in der Philosophie die Entwicklung von Malebranche bis Hegel. Napoleons totaler Krieg sei zeitgleich mit Hegels gewalttätiger Arbeit des Begriffs. Steiner ging auf diesen wenn man so will - Formvergleich nicht weiter ein. Er wurde auch nicht danach gefragt.

Die Überlegung hat eine gewisse Plausibilität. Venturi hätte wahrscheinlich einiges dagegen einzuwenden gehabt, Hegel so einfach der Aufklärung zuzuschanzen. Die Radikalität, die Bereitschaft zum Umsturz Himmels und der Erden in der Philosophie des deutschen Idealismus, ist ja schon von ihren Autoren als Ergänzung und Korrektiv der politischen Bewegung in Frankreich verstanden worden.

Steiner meint freilich etwas anderes: er hat den Gestus im Auge, die hochmütige Überhebung einer Vernunft, die glaubt, sie hätte die Wirklichkeit aufgesogen und könne so aufgepumpt - „realitätshaltig“ - jeden Widerstand beseitigen. Der Furor der Beethovenschen Schlüsse, Hegels Gang der Vernunft durch die Geschichte und der Weltgeist zu Pferde alles der gleiche falsche Blick auf die in Wirklichkeit gedemütigte, gefolterte, gequälte Menschheit.

Steiners aufgeregtes und aufregendes Plädoyer für Joseph de Maistre war ein Plädoyer dafür, vor dem Grauen die Augen nicht zu schließen, es nicht zuzukleistern, die politischen Ziele der Aufklärung durch ihre Vernunftkritiker hindurch weiter zu verfolgen, an ihnen festzuhalten gegen die bessere Einsicht, daß bisher die Schwarzseher die besseren Propheten waren und daß es keinen Grund da für gibt, warum sich das ändern sollte. Wie meinte der Senator in de Maistres „Abendunterhaltungen in St. Petersburg“: „Das Glück der Übeltäter und das Unglück der Gerechten. Das ist das Skandalon der menschlichen Vernunft.“

Arno Widmann

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