: NETSCHAJEW: Jorge Semprun "Netschajew kehrt zurück"
Jorge Semprun ist jetzt spanischer Kulturminister. Man stelle sich einen bundesrepublikanischen vor, der ein Jahr vor seiner Ernennung einen Roman geschrieben hätte über die RAF, einen kenntnisreichen dazu, der zeigt, daß der Verfasser sehr gut versteht, worüber er schreibt. Außerdem noch ein Kolportageroman, ein Krimi, etwas, was man in fünf bis sechs Stunden liest. Spannend. Undenkbar bei uns? Warten wirs ab. Jorge Sempruns „Netschajew kehrt zurück“ beginnt mit einem Mord und schließt mit einem happy end. Ein Terrorist steigt aus. Seine Freunde, die schon vor fünfzehn Jahren ausgestiegen waren, sind inzwischen alle in schönen, einfluß- und ertragsreichen Ämtern. Semprun bemüht dafür die Theorie, daß wer solange die Mechanismen des Kapitalismus studiert habe, um ihn zu durchschauen, am besten geeignet ist, von ihm zu leben. Er vergißt dabei, daß die terroristische Linke, wie er an anderer Stelle deutlich macht, zu einer genaueren Aufklärung unserer Lebensverhältnisse nichts beigetragen hat. Widersprüche dieser Art finden sich eine ganze Menge in seinem Roman. Als ich fünfzig Seiten gelesen hatte, wollte ich aufhören, weil mir die durchsichtige Machart, der simpel verkomplizierte Plot auf den Wecker ging, aber ich las weiter. Die Manier Sempruns, den Roman als Vehikel für eine Kritik an von Trottas Luxemburg-Film oder an Platos Gorgias zu benutzen, frappierte mich. Wie er sich selbst und seinen Film „Der Krieg ist vorbei“ mit unterbringt in der Geschichte, das hat mir gefallen. Soviel Narzißmus ist schon wieder sympathisch. Lächerlich auch die Frauen im „Netschajew“. Alle sind schön und intelligent. Die Prostituierte liest und kommentiert Cioran. Der ganze Roman ist ein Welt aus Reklamespots: Alles schöne, glatte Menschen. Dazwischen ballern die Terroristen, geben dem Glanz die nötige Tiefe. Das von ihnen vergossene Blut fügt dem Neon-Paradies einer Glamour-Welt ein wenig dostojewskischen Hautgout hinzu. Ohne ihn würden sich alle nur glücklich in einander spiegeln. Semprun bildet diese Ironie nur ab. Er reflektiert sie nicht. So sehr in seinem Buch pausenlos kommentiert und debattiert wird. Viele Zitate, unzählige Buchtitel, eine bizarre Lesewelt. Einer der Helden des Romans versucht eine Frau zu erobern: „Ein Satz von Musil, um die Verwirrung auszudrücken, in die eine ihrer Gesten ihn gestürzt hatte, und diese Verwirrung in die Erinnerung eingehen zu lassen. Das Fragment eines altgriechischen Gedichts, um das Begehren auszusprechen, es in die Ewigkeit des Worts einzuschreiben. Eine Strophe aus den Elegien von Vergil, um das Glück eines Spaziergangs mit ihr in der ginstergelben Heide auszusprechen. Ein Vers von Baudelaire, um das Ende des Sommers zu verkünden, die schreckliche Süße des Herbsts und der versagten Liebe.“ Das sind Stellen, da möchte man den Band in die Ecke werfen. Und nicht nur, weil der Verdacht naheliegt, hier werde eine Ekloge mit einer Elegie verwechselt. Das Buch aber verträgt
-dafür hat der Verlag dankenswerter Weise gesorgt - solche Behandlung. Aber ich bin sicher, es wird den meisten gehen wie mir: sie holen ihn wieder und lesen weiter. Bis sie ihn um drei Uhr nachts aus den Händen legen und beim Einschlafen denken: was war das nur?
Jorge Semprun, Netschajew kehrt zurück, Übersetzung von Eva Moldenhauer, Rotbuch-Verlag, 349 Seiten, 38,-DM
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