Willy Brandt in Erfurt

■ Triumphaler Empfang für den früheren SPD-Bundeskanzler in Erfurt / Erinnerungen an den Grundlagenvertrag mit der DDR und jenen historischen 19. März 1970

Zigtausende Menschen versammelten sich am Montag Vormittag in Weimar, um Willy Brandt zu hören. 70.000 waren es am Samstagabend auf dem Domplatz in Erfurt gewesen - in Kälte und Nieselregen weniger als erwartet. Aber, meinte Brandt dazu, „70.0000 ist doch auch 'ne schöne Zahl'“. Über die Regenschirme hinweg forderte er die BürgerInnen auf, sich nicht ihr Selbstbewußtsein und ihr Land abkaufen zu lassen: „Der Zug zur Einheit rollt. Jetzt kommt es darauf an, daß niemand unter die Räder kommt.“ Am Abend gab sich Brandt vor der Presse nachdenklich. Fünf Punkte habe er ausgemacht, die den Schwung und die Euphorie in der DDR in den letzten Wochen gebremst hätten. Dazu gehöre wohl, daß die vollmundig angekündigten Veränderungen „vielen Menschen ein bißchen lange dauern“, wachsende Angst vor Arbeitslosigkeit, Verunsicherung durch die westdeutsche Wahlkampfpropaganda und das Gefühl, zum „fünften Rad am Wagen“ der BRD zu werden. SPD-Chef Böhme plädierte für einen „sauberen Wahlkampf“: „DDR-Bürger glauben viel schneller, was ihnen gesagt wird.“ Der Empfang, den Erfurt Brandt am Samstagmittag bereitet hatte, war euphorisch. Hinter der dünnen rotweißen Plastikabsperrung standen die Menschen knüppeldick in den Gängen des Erfurter Bahnhofs, drängelten und riefen: „Willy! Willy!“

An jenem 19. März vor 20 Jahren war Brandt in einem der Salonwagen der Reichsbahn - Baujahr 1936 - gekommen. Sogar der Kellner war derselbe. Die erste Etappe der Wahlkampfreise des „großen alten Mannes der SPD“ durch die DDR als remake der jüngeren Geschichte. Das Fenster, im zweiten Stock des Hotels „Erfurter Hof“ direkt gegenüber dem Bahnhof, sollte es also sein. Dort, aus dem Zimmer 249 heraus, hatte der damalige Bundeskanzler Brandt im März 1970 schon einmal auf eine „Willy! Willy!“ rufende Menschenmenge gesehen, als er sich - auf seine Initiative - zum ersten Mal mit dem damaligen Staatsratsvorsitzenden Stoph zum Beginn deutsch-deutscher Verhandlungen traf. Ein italinienischer Fernsehmann, der auch damals dabei war, erinnert sich an ein gemischtes Publikum. Die einen brachen in Tränen der Begeisterung aus, die anderen beschimpften Brandt als „Drecksack“. Brandt erinnerte sich bei seiner Rede vor allem an die Tränen, an die Verhaftungen Hilfesuchender durch den Staatssicherheitsdienst.

Seinerzeit hatte er den DDR-Offiziellen gesagt: „Keiner darf den anderen bevormunden wollen. Ich bin nicht hierher gekommen, um die Abschaffung irgendwelcher Bindungen der DDR oder irgendwelcher Gesellschaftsformen zu fordern.“ Diesmal entschuldigte er sich fast. Er habe damals gedacht: „Du darfst nicht irgendwas anheizen... Du fährst morgen wieder nach Bonn.“

Heide Platen